Anne Stern – Fräulein Gold: Die Stunde der Frauen (Band 4) – Review
Lange lässt uns die Autorin Anne Stern glücklicherweise nicht warten. Kaum eineinhalb Jahre nach dem Start der Hulda-Gold-Saga liegt uns jetzt schon mit „Fräulein Gold: Die Stunde der Frauen“ der vierte Teil vor. Wir befinden uns weiterhin im Berlin der Zwanzigerjahre und beobachten das spannende Leben der selbstbewussten Hebamme Hulda Gold. Mittlerweile befindet sie sich in einer Beziehung mit dem lebensfrohen Arzt Johann Wenckow, der so ganz anders ist, als ihre vorherige Liebschaft Kommissar Karl North.
Auch beruflich hat die ehemals freiberuflich tätige Geburtshelferin einen großen Sprung gemacht, arbeitet nun als leitende Hebamme in einer renommierten Klinik und hat damit die Chance die Bedingungen von Frauen in (immerhin) kleinen Schritten zu verbessern.
Sicher oder selbstständig sein?
Doch Hulda hadert schwer mit den gesellschaftlichen Unterschieden, die trotzdem zwischen ihr und der wohlhabenden Familie ihres Liebsten herrschen. Sie fühlt sich nicht wirklich akzeptiert. Bei ihrer Arbeit blüht sie richtiggehend auf und mit der etwas ruppigen Ur-Berlinerin Erna an ihrer Seite fühlt sie sich dort wohl. Selbst wenn der Buchtitel „Fräulein Gold: Die Stunde der Frauen“ uns große Sprünge in Aussicht stellt, es ging damals langsam voran mit der Emanzipation der Frauen und dem Erkämpfen von Rechten und Freiheiten.
Eine Hochzeit mit ihren Liebsten Johann würde bedeuten, dass er darüber entscheiden darf, ob sie weiterhin berufstätig bleiben kann. Denn bis 1958 musste der Mann sein schriftliches Einverständnis dazu geben und konnte das Arbeitsverhältnis seiner Frau auch problemlos ohne Rücksprache mit ihr kündigen. Beim Schmökern von Anne Sterns neustem Hulda-Roman wird deutlich, dass wir schon einiges im Feminismus erreicht haben, wenn auch bei Weitem nicht annähernd genug.
Selbstbestimmung beim Schwangerschaftsabbruch
Abtreibung ist ein großes Thema in „Fräulein Gold: Die Stunde der Frauen“. Während behinderte Kinder damals ohne mit der Wimper zu zucken als unwürdiges Leben aussortiert und in entsprechende Heime abgeschoben wurden, wurde den Frauen das Recht auf selbst bestimmte Abtreibung untersagt. Mangelnde Verhütungsmöglichkeiten und unausgeglichene Machtverhältnisse führten allerdings häufiger zu ungewollten Schwangerschaften und weiteren Kindern, die die Frauen schlichtweg irgendwann nicht mehr ernähren konnten.
Umso absurder, dass bspw. die erzkatholische Richterin Amy Coney Barrett in Amerika jüngst ernsthaft die Abschaffung der Grundsatzentscheidung “Roe v. Wade” von 1973 in Aussicht stellte (siehe dazu von Annika Brockschmidt – Amerikas Gotteskrieger: Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet). Und auch in Deutschland müssen gesetzliche Regelungen und Fristen heute noch streng eingehalten werden, wenn ein Schwangerschaftsabbruch zur Debatte steht.
Kinder, Küche, Kriminalfall
Natürlich gibt es in „Fräulein Gold: Die Stunde der Frauen“ von Anne Stern auch wieder einen Fall zu lösen. Das Dienstmädchen Ellen gerät unverschuldet in eine Notlage und ehe Hulda Gold sich versieht, ist sie wieder darin verwickelt. Hilfsbereitschaft und Gerechtigkeitssinn machen es ihr unmöglich, sich herauszuhalten. Altbekannte Figuren treten wieder auf und – dafür ist man Anne Stern insgeheim dankbar – das Thema Nationalsozialismus gerät etwas in den Hintergrund. Selbstverständlich findet es statt und lässt sich sowieso weder ignorieren, noch auf lange Sicht vermeiden.
Aber Anne Stern gewährt uns noch etwas Zeit, dafür endet das Buch mit einem Knall, den man so nicht erwartet hatte und der sich deutlich von den anderen Teilen abhebt. Sehr schön ist wieder die Verflechtung von zahlreichen, echten Personen und Begebenheiten. Man muss das Buch immer wieder zur Seite legen, um zu recherchieren und stößt auf alte Werbeplakate, Filmfotos, längst vergessene Persönlichkeiten und nicht mehr existente Gebäude. Die Vorfreude auf den fünften Teil ist groß und eine Verfilmung drängt sich geradezu auf. Ein Hörbuch, gelesen von Anna Thalbach, gibt es bereits. Jetzt noch einsteigen lohnt sich.
Seiten: 464
Verlag: Rowohlt
ISBN-10: 3499006529
ISBN-13: 978-3499006524
VÖ: 16.11.2021
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