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Anne Stern – Meine Freundin Lotte – Review

Die Inspiration für ihren neuen, halb-biografischen Roman “Meine Freundin Lotte” bekam die Autorin Anne Stern eher zufällig über einen Bildband. Schon das Durchblättern der ersten Seiten löste in ihr den sofortigen Drang aus, über diese Malerin zu schreiben. Besonderen Reiz hatte das, wie sie es im Nachwort nennt, “weibliche Arbeitsbündnis, in einer von Männern dominierten (Kunst-)Welt“, womit sie sich auf die besondere Beziehung zwischen Lotte und ihrem Lieblingsmodell bezieht. Eigentlich erzählt der Roman uns die Geschichte deshalb aus zwei Perspektiven, nämlich gleichberechtigt aus der von Lotte und der ihrer engen Freundin Traute. Der Roman könnte also genauso gut “Meine Freundin Traute” heißen. Wir steigen im letzten Lebensabschnitt ein – Lotte wohnt mittlerweile in Schweden, der zweite Weltkrieg hat sie entwurzelt, ihr Leben nachhaltig (und irgendwie auch rückblickend) verändert.

Eine Rückkehr nach Deutschland scheint genauso unmöglich, wie eine offen kommunizierte Flucht. Dementsprechend arrangiert sich die Künstlerin mit ihrer neuen Heimat, argumentiert mit neu gewonnener Freiheit und fühlt sich insgeheim doch unwohl, nicht wirklich gewollt und unverstanden. Ihre Freundin Traute besucht sie mit ihrem Mann und spürt diese Zerrissenheit. Offen sprechen die beiden allerdings schon lange nicht mehr miteinander.

Über ein Freundschaftsgespenst

Die Zeit hat Wege verbaut, wenngleich auch nur kommunikativ, denn beide halten an den gemeinsamen, emotionalen Erinnerungen fest. Sie teilen sich eine Art Freundschaftsgespenst, das gleichermaßen schön und erschreckend ist und ihre Leben dominiert. Denn sollten die beiden diese gemeinsame Erinnerung aufgeben, was bleibt dann eigentlich noch? Außer den anschließenden Schrecken des Krieges gibt es dann gar nichts mehr. Wir als Leser*innen reisen also, abwechselnd aus den Perspektiven der beiden, zurück in die Vergangenheit. In die Zeit vor dem Krieg, vor die Zeit, in der alles kompliziert und schrecklich wurde. Lotte war eine aufstrebende, engagierte Studentin. Die richtige, wahrhaftige Kunst entdeckt sie aber erst, als Traute ihre Muse wird. Es entwickelt sich ein unausgesprochen, amouröses und enges Verhältnis, das sich über die Posen und Bilder ausdrückt.

Die Sprache in der Schwebe halten

“Meine Freundin Lotte” ist ein Tanz der Gefühle, fast alles läuft nonverbal ab. Die Verbindung Lottes zu ihrem Mentor Wolfsfeld, die Beziehung zu ihrer Familie und auch die vernünftige Zuneigung von Traute und ihrem Mann Ernst. Die Autorin Anne Stern schreibt deutlich anders, als bei der Saga über die Hebamme Hulda Gold. Man muss mehr erspüren, hat viel mehr Deutungsmöglichkeiten und bleibt eher in der Schwebe. Und so wortkarg, wie Lotte und Traute miteinander umgehen, so hält es auch die Autorin Anne Stern mit uns Leser*innen. Dementsprechend gibt es nicht die eine festgelegte, sondern mehrere Ebenen, auf denen dieses Buch über Freundschaft, unerfüllte Sehnsüchte und lebenslangen Selbstbetrug zu verstehen ist.

Mit ihrem Roman über die Malerin Lotte Laserstein füllt Anne Stern die Leerstellen auf, die sich trotz vorliegender Fakten, den vorhandenen Bildern und zahlreichen Aufzeichnungen (Briefe, Fotoalben, Postkarten und Ausstellungsflyer) ergeben. Damit stellt sie sich einer der größten literarischen Herausforderungen und schreibt über Kunst. Deshalb ist “Meine Freundin Lotte” noch mehr als jeder andere Roman, von der Sensitivität der Leser*innen abhängig. Die 1889 geborene Malerin Lotte Laserstein galt als Vertreterin der gegenständlichen Malerei und starb 1993 in Kalmar.

Seiten: 368
Verlag: Kindler Verlag
ISBN-10: 3463000261
ISBN-13: 978-3463000268
VÖ: 17.08.2021

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