Enter Shikari – A Kiss For The Whole World – Review
Die Post-Hardcore-Trancore-Instanz ENTER SHIKARI aus St. Alban veröffentlicht mit „A Kiss For The Whole World“ ihr mittlerweile achtes Album. Das Prinzip, tanzbare Beats mit Gitarren zu vermengen und darauf scharf formulierte und häufig auch bitter sarkastische Gesellschaftskritik surfen zu lassen, funktioniert weiterhin. Wahrscheinlich 2023 so gut wie schon lange nicht mehr, da uns die aktuelle Weltlage wohl alle latent mit Fatalismus infiziert hat.
Leider hat sich keine der bisher geäußerten Vorwürfe, die ENTER SHIKARI in den letzten zwanzig Jahren musikalisch geäußert hat, erübrigt und kaum eine Forderung wurde wirklich erfüllt oder redundant. Mit „A Kiss For The Whole World“ versuchen ENTER SHIKARI inhaltlich den kleinsten Nenner zu finden und die Menschheit mit Leidenschaft für den Planeten und ihr eigenes Überdauern anzuzünden.
Vom Kleinen zum großen Ganzen
ENTER SHIKARI zeigen sich auch auf „A Kiss For The Whole World“ wieder maximal versöhnlich. Die Angst vor Veränderung greifen sie im stampfenden „It Hurts“ auf, zerstreuen die Bedenken mit einer Art Dancefloor-Piano und einem hypnotischen Beat. Man könnte der Platte schon eine Art Motivationskonzept unterstellen. Die Band führt uns von „trau dich“ zu, „sorge um dich selbst“ bis hin zur Erkenntnis, dass die Erde dir und alles, was sich darauf abspielt, wenn du dir selbst wichtig bist und im Leben einen Wert siehst, auch am Herzen liegen sollte. „Jailbreak“ symbolisiert dann den Ausbruch, das Abschütteln von Zwängen und dem ewigen „das haben wir schon immer so gemacht“. Wer kein Englisch versteht oder sich nicht für die Texte interessiert, wird trotzdem Spaß haben. Aber die wahre Sprengkraft steckt in der Diskrepanz.
Alles hinterfragen
Es fallen einem kaum Bands ein, die heutzutage noch so selbstverständlich mit Jungle und Drum’n’Bass hantieren, wie ENTER SHIKARI. Da der Sound in der Underground Dance Scene Mitte der Neunzigerjahre in Großbritanien etabliert wurde, liegt das nahe und hat also auch einen nostalgischen Hintergrund. Die Band ist von jeher tief in der Clubszene verwurzelt und lässt deshalb auch gerne mal „Leap Into The Lightning“ in „Feed Your Soul“ laufen, wie bei einem Old-school-Mixtape. Mit dem über Klassik einleiteten „Dead Wood“ verdeutlichen ENTER SHIKARI, was mit Sicherheit nicht dazu beiträgt, dass man sich besser fühlt und gesunden Tatendrang entwickelt.
„Am I no good, am I just dead wood“, fragen sie sich und beschreiben den Prozess, wenn man sich beim Doomscrolling die Endorphine und den Mut aussaugt und stattdessen aufgepumpt wird mit Zweifeln. Bin ich gut genug? Was kann ich schon tun? Was ist wahr und was ist Fake? Die Kompositionen eskaliert in einer Vocoder-Speech, die einen verzerrten Computer symbolisiert, der sich nach echten Gefühlen sehnt. Was ENTER SHIKARI uns damit über Bande vermittelt, ist todtraurig und leider sehr wahr. Ebenso wie das Cover, denn wer wünscht sich schon eine artifiziell, animierte Natur?
Es ist hier, direkt vor euren Augen
Musikalisch lässt sich festhalten, dass ENTER SHIKARI auf dieser Platte wirklich all ihre Fähigkeiten in den bestmöglichen Ausprägungen verzahnen. Flächen und Akkordvorlagen an den richtigen Stellen, pumpende Beats, um die Stimmung hochkochen zu lassen, lockernde Harmonien und einprägsame Hooks, um nicht mit dem bösen Inhalt vollends abzustoßen. Rou Reynolds hat schon immer auffällig kluge Texte geschrieben, dass man die Genialität von Songs wie „Bloodshot“ und „Goldfish“ schon als gegeben hinnimmt. Sind sie aber nicht, hier verzahnen sich Eloquenz mit Popkultur.
Keine Ahnung, ob ENTER SHIKARI wirklich besser geworden sind, oder warum „A Kiss For The Whole World“ so reinhaut. Wahrscheinlich hängt es wirklich kausale mit dem aktuellen weltweiten Abfuck zusammen. Und dass man in der Rückschau eben schmerzhaft feststellt, dass wir all das schon vor Jahrzehnten haben kommen sehen.
Dauer: 38:03
Label: SO Recordings / Ambush Reality
VÖ: 21.04.2023
Tracklist „A Kiss For The Whole World“ von ENTER SHIKARI
A Kiss For The Whole World X
(pls) set me on fire
It Hurts
Leap Into The Lightning
Feed Your Soul
Dead Wood
Jailbreak
Bloodshot
Bloodshot (coda)
Goldfish
Giant Pacific Octopus (i don’t know you anymore)
Giant Pacific Octopus swirling off into infinity…
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