100 KILO HERZ – Interview zum Album „Weit weg von zu Hause“
100 Kilo Herz aus Leipzig machen Punkrock mit Bläsern und haben sich mit Brass Punk einfach ihr eigenes Genre geschaffen. Getreu dem Motto „viele Menschen, viel Fun“ ist die Band zu siebt unterwegs. Wir schnappten uns Rodi, den Zuständigen für Bass und Gesang, die Gitarristen Clemens und Marco, Tenorsaxophonist Stefan, Altsaxophonist Claas, Trompetenchef Flecki und Schlagzeuger Falk für ein Interview zum aktuellen Album „Weit weg von zu Hause“, das jüngst bei Bakraufarfita Records erschienen ist.
Ihr seid viele Leute, wie genau geht ihr beim Songschreiben und bei der Entscheidungsfindung vor?
Rodi: Drei von uns prügeln sich, zwei trinken Bier, einer steht daneben und spielt Saxophon und ich setze mich in die Ecke und schreibe ’nen Songtext. Halt die klassische OASIS-Variante.
Clemens: Das Songschreiben geht ziemlich unterschiedlich voran. Am Ende macht es die Mischung. Variante 1: Alle treffen sich im Proberaum und wir “jammen” – ein furchtbares Wort – etwas rum – endet meist mit einem leeren Kasten Bier und leeren Songbook.
Oder Variante 2: Marco oder Claas nehmen Songs bzw. Skizzen zu Hause auf, und wir versuchen etwas Rundes daraus zu machen. Da ist die Erfolgsquote 50:50. Dann gibt es noch Variante 3: Clemens schickt Ideen rum – da geht die Quote gen null.
Rodi: Das liegt aber auch daran, dass du die Ideen immer als Video schickst…mega blöd im Auto zu hören (lacht).
Clemens: Oder die Band trifft sich, probiert Riffs und Texte aus und die Bläser steigen dann später dazu – das funktioniert fast immer.
Rodi: Das klingt jetzt von außen sehr nach jammen, aber ist was vollkommen anderes!
Clemens: Die „eine“ Methode gibt es bei uns auf jeden Fall nicht.
Ihr wollt „Einer von den Guten“ sein, ich auch. Aber was versteht ihr darunter?
Flecki: Für mich geht es in dem Lied nicht darum, dass es ein absolutes Gut oder Böse gibt.
Rodi: Von den Früchten des Zorns gibt es ein tolles Lied, mit dem Namen „Gut und schlecht“. Der Anfang des Refrains ist „Wir sind alle gut und schlecht…“
Flecki: Das passt auf jeden Fall! Wenn man es denn aber unbedingt wortwörtlich nehmen will, würde ich sagen, um „Einer von den Guten zu sein“ ist es nicht ausreichend ein „FCK NZS“ oder Antifa-Shirt zu tragen und schon hab ich sozusagen einen Freibrief und bin automatisch Einer von den Guten. Es geht darum, die eigenen Werte und Überzeugungen so gut es geht zu leben… durch Taten und Worte. Das ist kein endgültiger Zustand, wo ich sagen kann ‚So, fertig, jetzt bin ich Einer von den Guten‘. Das ist ein Prozess, der niemals abgeschlossen sein kann und deswegen ist diese Zeile halt ein Wunsch danach, die eigene Utopie zu erreichen, mit dem heimlichen Wissen, dass man das nie schaffen wird.
Im Song „Pass auf dich auf“ beschreibt ihr ganz deutlich die Gefahr, wenn man sich auf dem Land mit der „falschen Meinung“ oder der „falschen Optik“ alleine nach draußen traut. Habt ihr das zugespitzt, welche Erfahrungen genau habt ihr gemacht?
Rodi: Der Text handelt tatsächlich von Situationen, die ich selbst in meiner Jugend erlebt habe. Da ist nichts zugespitzt oder dazugedichtet, das war so.
Clemens: Die meisten von uns kommen aus Kleinstädten oder Dörfern in Ostdeutschland. Wir wurden zum Teil mit Schreckschuss-Waffen bedroht. Security, die unser Konzert absichern sollten, haben uns nach Konzerten bepöbelt und wollten uns in die Autos pissen. In der Schule haben die Rechten auf mich und Falk unten gewartet, um uns aufs Maul zu hauen – da war der Schul-Hinterausgang die einzige Möglichkeit. Die Liste könnte ewig fortgeführt werden.
Rodi: Was in dem Zusammenhang noch faszinierend und gleichzeitig erschreckend ist… bei fast jedem Konzert von uns kommen Menschen aus dem Publikum und sagen, wie sehr sie sich in dem Lied wiederfinden. Das sind dann auch meistens Leute von den Dörfern, die da allein auf weiter Flur stehen. Egal ob das die Angst ist, im Dunkeln allein rauszugehen, Typen die in ihre Schulklasse kommen und den Hitlergruß machen und niemand was dazu sagt oder noch krassere Geschichten. Es gibt, gerade auf den Dörfern, Menschen, für die das Lied den Alltag beschreibt.
FEINE SAHNE FISCHFILET sind natürlich die Referenzband, die einem bei eurem Sound sofort einfallen. Aber welche Bands haben euch in eurer Jugend beeinflusst, euch geprägt und Alternativen gezeigt?
Rodi: Musikalisch hab ich mich in meiner Jugend bei Bands wie PENNYWISE, NOFX, BAD RELIGION am meisten zu Hause gefühlt. Wenn es aber um Bands geht, die mir Alternativen gezeigt haben, gibt es zwei Namen die ich nennen muss; FAHNENFLUCHT und FRÜCHTE DES ZORN. Das sind die Bands, die mir mit ihren Texten Kraft gegeben und Mut gemacht haben.
Falk: Bei Clemens und mir ist das eigentlich die gleiche Liste. Eigentlich alles was Deutschpunk und Ami-Punk ist. FAHNENFLUCHT, LESS THAN JAKE, RANTANPLAN, … BUT ALIVE, SLIME, KNOCHENFABRIK, THE WOHLSTANDSKINDER.
Rodi: SLIME bei mir definitiv auch. … BUT ALIVE, MUFF POTTER. Und einige andere Bands, die Clemens und Falk in ihrer Jugend schon hatten, habe ich leider zu spät entdeckt.
Marco: DEPECHE MODE war die erste Band, die mir überhaupt richtig Spaß an Musik gebracht hat.
Stefan: Also, ich hab…
Marco: ..nur Jazzbands gehört, die niemand von uns kennt?
Stefan: Genau.
Flecki: Bei mir waren die Jugendhelden LINKIN PARK und LIMP BIZKIT, BLINK 182 und SUM 41. Und DIE ÄRZTE.
Claas: Dem kann ich mich anschließen. Und bei mir kommt noch BILLY TALENT dazu.
Rodi: die Zeile ‚182 und 41 sind das Wichtigste für uns‘ kommt auch nicht von ungefähr. BLINK und SUM 41 haben wir glaube ich wirklich alle gehört.
Flecki: Und die ersten drei FARIN URLAUB Soloalben… die sind immer noch großartig (Clemens, Falk und Rodi nicken zustimmend). Ich hab deswegen sogar mal versucht Gitarre zu spielen…Naja, hab’s dann halt bei volltrunkener Lagerfeuermucke belassen.
Marco: Deshalb bist du auch bei 100 KILO HERZ gelandet… (alle lachen).
Ihr sprecht in „Kleinstadtdisco“ die schleichende Normalisierung von fremdenfeindlichen, antifeministischen und diskriminierenden Aussagen und Handlungen an. Denkt ihr, dass das ausschließlich ein Problem der Kleinstadt ist?
Rodi: Definitiv nicht, das ist gesamtgesellschaftlich spürbar. Hier sollte auch gesagt werden, dass das Lied eine Reflektion der Jugendclubs in und um meine Kleinstadt ist und die Erlebnisse dort mehrere Jahre zurückliegen. Aber die Normalisierung von rechten Gedanken und Äußerungen, ist seit einer ganzen Weile spürbar. Nach meinem Gefühl waren die Städte irgendwie aufgeklärter. Bei uns auf dem Dorf war es Normalität einen schwarzen Menschen mit dem N-Wort zu bezeichnen. Heute hab ich das Gefühl, dass nach dem „Das darf man ja wohl noch sagen-“ und „Man darf ja heute gar nichts mehr sagen“-Credo, was vor allem die AfD predigt, die Menschen weiter weg gehen von Empathie und Reflektion des eigenen Verhaltens und hin zu „ich will das so machen, egal wie andere Menschen sich damit fühlen.“ Dabei ist nichts davon verboten.
Die Menschen können dann aber nicht damit umgehen, wenn Ihnen dieses unempathische und unreflektierte Verhalten vorgeworfen wird. Ich weiß aber nicht, ob die Mentalität in den Großstädten früher anders als in den Kleinstädten war… vielleicht kann unser „Großstädter“ etwas dazu sagen?
Claas: Für mich war es eigentlich immer normal von Menschen mit „Migrationshintergrund“ umgeben zu sein. Obwohl ich nicht gerade in einem sozialen Brennpunkt aufgewachsen bin. Irgendwie geht man in der Großstadt offener damit um. Das ist ja das Paradoxe… dort wo es die meisten Vorurteile gibt, gibt es eigentlich die wenigsten Berührungspunkte. Natürlich gibt es auch in den Großstädten genug Menschen mit Vorurteilen – aber auch wenn man die Statistiken anschaut, findet die AfD offensichtlich in den ländlichen Gegenden mehr Gehör und Unterstützung. Ich glaube, es ist auch die Angst vor dem, was die Menschen halt nicht kennen.
Mit eurer Musik kann es im besten Fall gelingen, junge Leute auf den richtigen Weg zu bringen, sie zum Nachdenken anzuregen. Gibt es Dinge, die ihr im jugendlichen Leichtsinn getan habt oder gewisse Äußerungen von euch, die ihr heute ganz anders einschätzen und nicht mehr wiederholen würdest?
Rodi: Ich bin jetzt neunundzwanzig und es gibt Dinge, die ich noch vor einem oder zwei Jahren gesagt habe, die ich so nicht mehr sagen oder tun würde. Wenn du dich darauf einlässt, ein politisches Bewusstsein zu haben beziehungsweise zu entwickeln, ist das Leben ein dauerhafter Lernprozess. Aber das hat Flecki schon bei der Frage nach den Guten ganz gut zusammengefasst.
Für euch stehen einige Festivaltermine an, auf was freut ihr euch am meisten?
Rodi: Ich glaube, für die meisten Menschen unserer Band wird das das Outside Rodeo in Coburg sein, weil wir dort an einem Abend mit AKNE KID JOE und PASCOW spielen. PASCOW ist seit 2011 meine Lieblingsband und alle anderen sind mittlerweile auch überzeugt (lacht). Außerdem freue ich persönlich mich vor allem auf die D.I.Y.-Festivals, besonders in den ländlicheren Gegenden. Die Leute dort ziehen die Sachen halt auf, weil es sonst in der Nähe nichts vergleichbares gibt. Das sind dann meistens unglaublich liebe, engagierte und motivierte Menschen, die da beeindruckende Sachen stemmen, teilweise mit kleinsten Teams.
Clemens: Rock am Kuhteich war leider schon, aber auch auf jeden Fall das erste Highlight und es sind überall mega coole Bands dabei. Bands, die wir mögen und als Jugendliche schon gehört haben. Klar, mit PASCOW bei dem Outside Rodeo – das ist ’ne Hausnummer, aber auch K.U.T. Sommerschlacht und Youth Brigade Festival wird der Knaller. Die Schweiz ist nun dabei und in Düsseldorf wird es noch ne schöne Überraschung geben… zu viel um alles aufzuzählen.
Welchen Anspruch habt ihr an 100 KILO HERZ? Geht es darum, mit Freunden eine gute Zeit zu haben und Musik mit guten Inhalten zu machen oder habt ihr schon einen weiterreichenden Ansatz und wollt gemeinschaftlich und politisch inhaltlich wirken?
Claas: Wir haben schon versucht ein paar Dinge zu schaffen. Seit dem Start unserer Konzerte steht eine Spendendose für ‚Kein Bock auf Nazis‘ an unserem Merchstand. Und zwischenzeitlich hatten wir noch eine für das Filmprojekt „Der Prozess“. Die hatten einne Crowdfundingkampagne gestartet. Wir haben das mitbekommen und dann bei unseren Konzerten am Merchstand dafür gesammelt und am Ende selbst noch was draufgelegt. Wir sind nicht DIE TOTEN HOSEN oder DIE ÄRZTE und können keine 10.000 Menschen oder mehr auf nem Marktplatz versammeln…Aber ein paar Ideen beziehungsweise Möglichkeiten haben wir und die nehmen wir auch ernst.
Clemens: Und das wir das Ganze zusammen machen und dabei noch Musik machen können, die uns gefällt, ist ein riesiges Glück und auch ein Privileg.
Das Cover von eurem Album „Weit weg zu Hause“ finde ich sehr gelungen. Ist das eine typische Situation, wenn ihr zusammen abhängt?
Clemens: Wenn wir mal Zeit hätten zusammen an einen See zu fahren, würde das wahrscheinlich so aussehen. Meistens wird es aber der Proberaum oder irgendein Club in irgendeiner Stadt. Vielleicht schaffen wir es auf dem Weg zu den Festivals mal an einem See zu halten (lacht).
Euer Album habt ihr zuerst alleine und jetzt über Bakraufarfita Records, wie kam es dazu und warum habt ihr genau dieses Label ausgesucht?
Clemens: Lieber Bönx, sorry, dass du das jetzt lesen musst. Also…
Marco: Das waren die Einzigen, die wollten (alle lachen)
Clemens: Spaß beiseite… Wir haben die Platte bzw. Demos davon an ein paar Labels verschickt. Mit einigen waren wir auch im Gespräch, aber wir wollten das lieber in den eigenen Händen haben. Daher haben wir alles selber gemacht. Die Platte hat sich ganz gut verkauft und perspektivisch mussten wir die einfach nachpressen lassen. Ich habe dann eine Mail an Bönx geschrieben, weil Bakraufarfita einfach ein super sympathisches Label ist und sich toll um die Bands kümmert. Ich hatte das Gefühl, dass wir uns da gut zu Hause fühlen, unsere Vorstellungen umsetzen und einfach gut zusammenarbeiten können. Wir haben uns dann als Band mit Bönx getroffen und das hat sofort gepasst. Gruß und Kuss an Bönxi von uns allen.
Was steht für euch in naher Zukunft sonst noch so an?
Clemens: Hoffentlich gute Konzerte. Ansonsten halt der tägliche Wahnsinn.
Rodi: Und hoffentlich kein Wahlsieg der AfD in Sachsen dieses Jahr im September. Die Ergebnisse bei der Europawahl waren gruselig. (alle nicken)