250_Nathan-Gray-2021-Foto-Uncle-M

Interview mit Nathan Gray über das Album “Rebel Songs”

Ich kann deine emotionale Reaktion sehr gut verstehen. Letztes Jahr habe ich Jeremy Bolm von TOUCHÉ AMORÉ interviewt und er meinte auch, dass das Schlimmste daran ist, dass er schon Hass empfindet, wenn er nur die Stimme von Trump hört. Also am Ende steht mehr Hass auf beiden Seiten, keine Seite kommt ungeschoren davon. Wahrscheinlich haben viele Amerikaner auch an JFK gedacht, an die Möglichkeit, dass hier Menschen vor laufender Kamera sterben könnte. Diese Angst, vor dem Verlust der Sicherheit, ist im kollektiven Gedächtnis. Bei uns in Deutschland standen vor Kurzem Menschen mit brennenden Fackeln vor dem Haus einer Politikerin, um gegen die Coronamaßnahmen zu protestieren. Auch wir Deutschen haben da sofort eine Verbindung und die führt zurück zum Zweiten Weltkrieg.

Es ist auch fast unmöglich, diese Wut und diesen Hass nicht zu fühlen. Deshalb gilt es, mit Liebe dagegen anzugehen und zu überdenken, wofür wir überhaupt aufstehen. Nämlich nicht gegen die Menschen, sondern für diese Menschen. Manche werden wir gehen lassen müssen, das ist die Minderheit, die werden unser Leben nicht beeinflussen. Aber für die Menschen, denen man aus dieser Hassspirale helfen kann, da lohnt sich dieser Aufwand immer. Ich weiß es, weil ich einer dieser Menschen war.

Keine Ahnung, wie viele mir schon so lange auf Social Media folgen. Aber bevor ich mich weiterentwickeln konnte und wichtige Dinge verstanden habe, war ich eine sehr hasserfüllte Person und habe viele fürchterlich Dinge über Moslems und Flüchtende geschrieben. Ich, der Typ von BOYSETSFIRE, der immer so korrekt und schlau gesungen hat?! Ich fing plötzlich online an, diese engstirnigen, hasserfüllten Dinge zu schreiben. Weil ich verletzt war und nicht wusste, wohin damit. Dann kamen einige Leute, die wussten, dass ich sehr schlechte Erfahrungen mit Religion gemacht habe. Sie wussten das und haben meinen Schmerz ausgenutzt und mir ein Feindbild erschaffen, auf das ich mich stürzen konnte.

Diese konstruierten Geschichten waren ganz schnell in meinem Kopf und ich fing an, das alles zu wiederholen, obwohl ich überhaupt keine Grundlagen oder Beweise dafür hatte. Es kann jeden treffen, das kann jedem passieren und deshalb ist es mir sehr wichtig. Als ich diese Menschen gesehen haben, wie sie da im Januar so vollgepumpt mit Hass losgerannt sind, habe ich auch mich in ihren Gesichtern gesehen und mich gefragt, was sie so weit gebracht hat.

Du dachtest, dass es auch du hättest sein können?

Auf jeden Fall. Ich hatte das Glück, gute Freunde zu haben, die mich immer im richtigen Moment zurechtgewiesen haben. Sie haben mir immer klargemacht, dass sie nicht konformgehen, mit dem, was ich von mir gebe, aber mich als Person lieben. Sie ließen mich auch nicht damit davonkommen oder haben meine Aussagen abgenickt. Aber es war klar, dass sie nicht aufhören würden, mich zu lieben. Das müssen wir tun. In unserem Land und weltweit, denn wir sind verbunden und hängen da alle zusammen drin.

Wir haben jetzt schon oft darüber gesprochen, dass Rebellion auch kräftezehrend ist, wie lädst du deine Batterien auf?

Eine Freundin von mir hat mir mal zurückgemeldet, wie es auf sie wirkt, mich live auf der Bühne zu sehen. Es sah für sie aus, als ob ich meinen Brustkorb aufreiße, alle Eingeweide herausfallen und die Leute darauf herumtrampeln. Das musst du bei dir behalten, du darfst nicht alles hergeben und muss dafür sorgen, dass auch wieder was bei dir reinkommt. (lacht) Mir war das gar nicht bewusst, aber es ergab total Sinn und erklärte, warum es Tage gab, an denen ich zu schwach war, um von der Couch aufzustehen.

Das ist aber schon Schritt eins, dafür achtsam zu sein. Es ist wichtig, zu versuchen im Moment zu sein. Wir sind alle immer in der Vergangenheit oder der Zukunft. Also habe ich mit Meditation angefangen, dafür habe ich aber keinen bestimmten Plan. Es ist in erster Linie stillsitzen und man muss gar nicht seinen kompletten Kopf leeren. Das geht ja auch gar nicht und sorgt nur für die nächste Angstattacke, wenn es nicht funktioniert.

Man kann dem Hirn schon erlauben im Kreis zu rennen oder an irgendwas etwas zu denken. Es ist wichtig, einfach zu akzeptieren, was passiert. Wir dürfen uns ruhig etwas mehr Zeit geben und es ist ok, dass man sich nicht immer gut fühlt und manchmal heilen muss. Heilen kann man erst, wenn man gebrochen ist. Es gibt Verletzungen, vor denen kann man nicht davonrennen. Es gibt Probleme, vor denen sollte man nicht davonrennen. Lass es einfach zu, es ist in Ordnung.

Wenn ich dich richtig verstehe, dann sind dir viele Dinge erst klargeworden, als du älter wurdest. Jetzt hast du zwei Kinder, wie hilfst du ihnen dabei positive Rebellen werden?

Man soll Kindern erstmal erlauben, Gefühle zu haben, auch mal auszuflippen, sie können manchmal richtige Arschlöcher sein (lacht). Sie können Dinge nicht abschätzen, sie reagieren instinktiv. Wenn sie im Supermarkt ausrasten, weil sie keine Süßigkeiten bekommen und den Grund nicht verstehen, dann lasse ich sie ausflippen: Man sollte sich auch nicht dafür schämen, das tun viele Eltern, sie fühlen sich wie Versager, wenn die Kinder nicht “funktionieren“. Das ist Quatsch, es ist deine Aufgabe, dieses Kind zu erziehen. Ich habe mir das von einer Person abgeschaut, der es egal war und das für mich übernommen. Später kann man darüber reden, aber in diesem Moment, sollte man sie einfach ihren Frust ausleben lassen. Wichtig ist, dass man den Kindern das Gefühl gibt, dass sie sicher sind.

Sicherheit ist ein gutes Stichwort, fühlst du dich sicher, da Biden jetzt Präsident ist?

Mal ganz abgesehen davon, dass niemand von uns mit ihm wirklich glücklich ist, hat er in einigen Punkten eine bessere Haltung. Die Dinge werden sich nicht so schnell ändern, wie wir uns es wünschen oder wie er es versprochen hat. Aber der ganze Spirit hat sich geändert und man kann mal kurz durchatmen (lacht). Da ist auf jeden Fall ein Unterschied, aber noch kein Grund sich zurückzulehnen. Alle Verantwortung in die Regierung zu setzen, sorgt sowieso wieder für Frust. Es geht darum in kleinen Babyschritten vorwärts zu kommen.

Artikel, die Dir gefallen könnten:
Greg Graffin – Punk Paradoxon
NATHAN GRAY – Rebel Songs
MATZE ROSSI – Wofür schlägt dein Herz
THRICE – Horizons/East
CHAOZE ONE – Venti
SWAIN – Negative Space
SURF CURSE – Heaven Surrounds You
ILGEN-NUR – Power Nap
CLINT LOWERY – God Bless The Renegades
BRIAN FALLON – Local Honey
ATREYU veröffentlichen Video zu “Super Hero”
THE DAMNED THINGS – High Crimes
TIM VANTOL – Better Days
CADET CARTER – Perceptions
THE CASTING OUT – !!! (The Lost Album)
AUSTIN LUCAS – Alive At The Hot Zone
KALI MASI – [laughs]
Die Geschichte der Donots: Heute Pläne, morgen Konfetti von Ingo Neumayer
SLOTHRUST – Parallel Timeline
PIANOS BECOME THE TEETHS – Drift
FJØRT – nichts

NATHAN GRAY bei Facebook

Ein Kommentar

  • Das ist ein herrlich tiefgründiges Interview. Mir gefallen die Boysetsfire Sachen zwar besser, aber Nathan Grey ist ein interessanter Typ und jetzt hör ich mir das neue Zeug doch mal an.

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert