
Jennifer Weist – Nackt: Mein Leben zwischen den Zeilen – Review
„Nackt: Mein Leben zwischen den Zeilen“ von Jennifer Weist ist eine gute Gelegenheit, sich intensiver mit der vermeintlichen Fassade der erfolgreichen Sängerin, Moderatorin und mittlerweile Autorin auseinanderzusetzen. Ein Buch bietet andere Perspektiven als Interviewfetzen oder vermeintlich tendenziöse Artikel an. Man merkt deutlich, dass „Nackt: Mein Leben zwischen den Zeilen“ der Autorin einiges abverlangt hat. Sprache und gesellschaftspolitische Themen lassen auch darauf schließen, dass einige Positionen bereits mehrere Jahre alt sind. Das liegt daran, dass dem ursprünglichen Verlag der Text an vielen Stellen zu heikel und angreifbar erschien. Gut und wichtig ist daher, dass schließlich der Rowohlt Verlag den Mut hatte, das Buch zu veröffentlichen.
Sex, Schmerz und Selbstbestimmung
Jennifer Weist ist sich ihrer Stärken und Schwächen bewusst und hält „Nackt: Mein Leben zwischen den Zeilen“ dementsprechend ausgewogen. Starke und auch streitbare Meinungen wechseln sich mit Selbsterkenntnissen über unüberlegte Aussagen und Handlungen von Weist selbst ab. Der Titel ist kein Zufall – auch wenn „nackt“ in diesem Fall als Metapher für inhaltliche Tiefe, schonungslosen Bericht und Selbstreflexion verstanden wird, geht es in dem Buch sehr viel um Sex. Um freien Sex, um sexuelle Entdeckung, Praktiken – und leider auch um sexuellen Missbrauch. Jede Facette wird explizit, aber nicht reißerisch geschildert. Wer also auf dieser Schiene anspringt, kann „Nackt: Mein Leben zwischen den Zeilen“ von Jennifer Weist auch dafür missbrauchen, seinen Voyeurismus zu bedienen.
Wenn Haltung gefährlich wird
Während man jede drittklassige Punkband für einen Stinkefinger in Richtung AfD überschwänglich lobt, wurde viel zu wenig gewürdigt, wie weit sich eine Band wie JENNIFER ROSTOCK damals 2016 mit „Wähl die AfD“ aus dem Fenster gelehnt hat. Drohungen und ernsthaft sicherheitsgefährdende Situationen folgten für die Band – Jennifer Weist als freizügige Frau natürlich in der ersten Reihe. Aber auch wer mehr über die Sängerin und den Menschen Jennifer Weist erfahren möchte, ist mit „Nackt: Mein Leben zwischen den Zeilen“ gut beraten. Die Schilderungen über ihre Mutter, die Prägung durch die Großeltern und die Abwesenheit des Vaters skizzieren den Charakter von Weist eindrucksvoll. Es mag Mut sein, der sie zu ihrem offensiven Auftreten bringt – aber die Umstände ließen und lassen ihr mittlerweile auch keine andere Wahl mehr. Die Begegnung mit Joe, mit dem sie über Umwege JENNIFER ROSTOCK gründet, verändert ihr Leben nachhaltig, stößt sie ins Rampenlicht, das sie liebt, das sie aber auch immer wieder herausfordert.
Sexismus im Musikbusiness lässt sich trotz oder gerade wegen des Selbstbewusstseins von Weist gut praktizieren. Sie ist ein leichtes Opfer – und gibt rückblickend zu, auch viel zu oft stumm zugestimmt zu haben. JENNIFER ROSTOCK fließt immer wieder ein: sei es mit der Entstehung und den Anfängen, mit ausschweifenden Exzessen oder mit bedenklichen Übergriffen auf der Bühne – durch die Sängerin selbst. Davon hätte es ruhig noch etwas mehr sein können.
Mutiges Buch oder ein moralischer Drahtseilakt?
„Nackt: Mein Leben zwischen den Zeilen“ von Jennifer Weist führt immer wieder zu teilweise pädagogisch ausschweifenden Erklärungen über Feminismus, sexuelle Selbstbestimmung, intersektionalen Rassismus – und genau hier merkt man dem Buch die Jahre an. Vieles ist mittlerweile deutlich bekannter, aber leider auch wieder rückläufig. Hier balanciert die Autorin gerade noch so auf dem selbst gespannten Seil der Moral und lässt mindestens zwei Thesen zu: Ist es nicht per se lobenswert, dass sie ihre Reichweite und Stimme für diese Themen nutzt? Oder ist gerade sie keine gute Botschafterin dafür?
Mehr als nur laut: Der Mensch hinter JENNIFER ROSTOCK
Vielleicht vertritt sie Positionen, die manche als anrüchig empfinden oder nicht mit ihrem persönlichen Wertesystem vereinbaren können – doch letztlich sind all ihre Haltungen darauf ausgelegt, dass Menschen sich frei entfalten dürfen und ihr Leben so gestalten können, wie sie möchten. Von daher gibt es daran mit normalem Menschenverstand eigentlich nichts zu meckern, man kann es lediglich anders sehen oder sich daran reiben. Anstößig? Vielleicht. Aber nur, wenn man kein Problem mit Freiheit hat.
Wer „Nackt: Mein Leben zwischen den Zeilen“ liest, hat zumindest mehr Informationen darüber, welche Ereignisse sie zu welchen Haltungen gebracht haben. Fans von Jennifer Weist werden sich ohnehin über das Buch freuen. Wer wie ich bisher kein Fan war, überdenkt danach einige Positionen über sie – und versteht, dass ihre Ansätze anders, aber mitnichten auf Erfolg kalkuliert sind. Ja, sex sells. Aber sie kauft wohl nicht ihr eigenes Buch, oder? Die Triggerwarnung zu Beginn des Buch sollte man auf jeden Fall ernst nehmen.
Seiten: 384
Verlag: Rowohlt Verlag
ISBN-10: 3499017407
ISBN-13: 978-3499017407
VÖ: 13.05.2025
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