Lest die Review zu "Die Träume anderer Leute" von Judith Holofernes bei krachfink.de

Judith Holofernes – Die Träume anderer Leute – Review

Irgendwie absurd, dass die Band, mit der Judith Holofernes bekannt wurde, den selbstsicher wirkenden Namen WIR SIND HELDEN trägt. Dabei dreht sich in ihrem ersten Roman “Die Träume anderer Leute” alles um die Momente, in denen einem das Leben unmissverständlich klarmacht, dass man keine unbezwingbare Heldin oder kein Held mit übernatürlichen Kräften ist. Und eben auch um die Tatsache, dass man meistens auch gar nicht heldenhaft im klassischen Sinne sein muss und Aufgeben oder Abwarten viel ehrenhafter sein kann.

Die Auflösung der Band ist der Ausgangspunkt der Biografie und somit auch der Auslöser für vieles. Aber eigentlich hat Holofernes ein Buch geschrieben, das unabhängig davon hilfreich ist. Und zwar für alle, die Fragen zur eigenen Identität oder dem Sinn des Lebens haben und auf der Suche nach inspirierenden Antwortmöglichkeiten sind.

Es wird nicht funktionieren, ich werde nicht mehr funktionieren

Es ist schon beeindruckend, mit welchem Fingerspitzengefühl es Judith Holofernes gelingt, in “Die Träume anderer Leute” ehrlich zu sein, ohne Beteiligte bloßzustellen. Die brutalen Mechanismen der Musikindustrie schildert sie scheinbar ungeschönt, beschreibt Momente, in denen sie frustriert oder desillusioniert ist, aber verteufelt die Branche nicht. Nachdem ihr Körper ihr unmissverständliche Signale sendete und sie im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr auftreten konnte, musste Judith Holofernes sich ihren Selbstbetrug eingestehen.

Denn auch die beiden Kinder in ihren Rockstaralltag zu integrieren, war eigentlich unmöglich. Seelische Verwundungen wurden von körperlichen abgelöst, die nicht mehr zu ignorieren waren. Das Ende von WIR SIND HELDEN fühlte sich dann erstmal befreiend an. Darauf folgte aber der harte Aufprall in der Realität und ein Verlorensein, denn gemeinsam mit ihrem Mann Pola, der bei WIR SIND HELDEN trommelte, stand sie vor der Aufgabe, im normalen Leben, als Familie bestehen zu müssen. Es galt, sich Alltagsrituale und gemeinsame Werte zurechtzuruckeln.

Du sollst mich nicht Roboter nennen

Lange hielt es Holofernes nicht ohne Kunst aus, in “Die Träume anderer Leute” beschreibt sie, wie schnell sie sich selbst mit der Idee anzündete, eine charmante Indieplatte ohne große Ansprüche zu veröffentlichen. Wahrscheinlich auch getrieben von ihrem eigenen will to please und dem Drang allen zu zeigen, dass sie weiterhin leistungsfähig und rentabel sei. Das ging ziemlich in die Hose, zumindest in den Augen der Plattenfirma, die den bisherigen Maßstab bei der Künstlerin anlegte.

Während ich diese Review schreibe, höre ich zum ersten Mal “Das leichte Schwert”, das erste Soloalbum von Judith Holofernes, das sie nach Auflösung von WIR SIND HELDEN geschrieben hat. Es ist ein lebendiges und herrlich kleinteiliges Album, dem man den Tatendrang und die Spielfreude, trotz aller Beschneidungen durch Plattenfirma und verkürzte Deadlines von drei auf einen Monat, nicht anhört.

Heldinnenhaftes Aufgeben

Doch Holofernes übernahm sich mit ihrem Vorhaben von der Solokarriere und verlor sich bei weiteren Anläufen immer wieder in dem großen Graben, der sich zwischen ihren eigenen und den Ansprüchen anderer auftat. Ein zuverlässiger Sensor schien ihr Körper zu sein, der ihr immer wieder ihre klaren Grenzen aufzeigte. Es ist erschütternd zu lesen, wie sie ihn trotz lautem Schreien überhörte und manchmal auch mit aller Macht zu bezwingen versuchte. Sie haderte auch mit ihrem Äußeren und dachte nach der weit verbreiteten Maxime: Body Positivity für alle, außer für mich.

Ich will ein Leben (zurück)

Doch nach und nach fand sie in Minischritten ins Gleichgewicht, wurde von Amanda Palmer inspiriert, zieht Kraft aus der Teilnahme an “Sing meinen Song” und die Biografie “Die Träume anderer Leute” findet ein versöhnliches und sehr inspirierendes Ende. Judith kündigt ihrem Management öffentlich in einem Brief, da sie schlichtweg keine Künstlerin mehr sein möchte und kann, an der es in erster Linie etwas zu verdienen gibt.

Selten habe ich ein Buch so oft zur Seite gelegt, um sacken zu lassen, was das mit mir zu tun hat. Es sind keine verkopften oder esoterischen Tipps, die sie gibt. Es ist die ehrliche Schilderung vom Leben, mit Höhen und Tiefen, in denen man sich wiederfinden kann. Denn der Wunsch nach einem selbst bestimmten Leben steckt in allen Menschen und nicht nur in Künstlerinnen und Künstlern. Stichwort: Bedingungsloses Grundeinkommen. Ich finde es herrlich, dass sie ausgehend von ihren, von Konsumkritik inspirierten, Texten zu diesem Lebensmodell gefunden hat.

Seiten: 416
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
ISBN-10: 3462003674
ISBN-13: 978-3462003673
VÖ: 08.09.2022

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