Olivia Jones Ungeschminkt

Olivia Jones – Ungeschminkt: Mein schrilles Doppelleben – Review

Oliver Knöbel, besser bekannt als die deutsche Dragqueen Olivia Jones, nimmt den eigenen fünfzigsten Geburtstag zum Anlass, um mit “Ungeschminkt: Mein schrilles Doppelleben” endlich eine Biografie zu veröffentlichen. Wer weiß, ob dieses Projekt ohne Corona überhaupt zu Ende gebracht worden wäre, denn über mangelnde Beschäftigung kann sich Olivia Jones wohl nicht beschweren.

Da wären zum einen die diversen Bars und Clubs, die sie in ihrer Wahlheimat Hamburg im Stadtteil St. Pauli betreibt, dort befindet sich auch der harte Kern der selbstgewählten Olivia-Jones-Familie. Darüber hinaus gab schon einige mediale Highlights, in denen sie einzelne Formate nicht nur durch Buntheit, sondern auch durch ihren Intellekt und ihr großes Herz bereicherte. Das wären zum einen der NPD-Parteitag, das Dschungelcamp, die Wahl von Bundestagspräsident Steinmeier oder auch das Wort zum Sonntag.

Die Mutti packt mal bisschen aus

Es gab vor Kurzem eine tolle Dokumentation über Oliver Knöbel / Olivia Jones, sodass einiges – bis dahin unbekanntes – aus der Biografie “Ungeschminkt: Mein schrilles Doppelleben” nicht neu sein dürfte. Zum Beispiel die absurde Aktion des Vaters, ein Bankangestellter, der sich mit einer großen Menge Cash nach Brasilien absetzen wollte. Er kam überraschend weit und lange damit durch, musste dann aber eine Haftstrafe antreten. Als schwuler Mann auf dem Dorf, der sich gerne schminkt und optisch bewusst auffällig in Szene setzt, war dieses Stigma als Sohn eines Betrügers natürlich nicht hilfreich.

Bei den Beschreibungen ihrer Kindheit und frühen Jugend trifft Olivia Jones wie immer genau den richtigen Ton. Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, zeigt sie immer aber immer Respekt und geht niemals unter die Gürtellinie. Außer es geht um Sex, aber selbst da halten sich die Anzüglichkeiten in Grenzen. All das verbuche ich unter der häufig mit ihr in Verbindung gebrachten Charaktereigenschaft Anstand, selbst wenn das irre konservativ klingt. Aber schrill und anständig sein, schließt sich ja nicht aus.

Immer schön anständig bleiben

In den folgenden Kapiteln von “Ungeschminkt: Mein schrilles Doppelleben” gewährt uns Olivia Jones einen Blick hinter die Kulissen, der einzelnen Etappen ihrer Karriere. Die Details sind interessant, aber im besten Sinne harmlos und stellen niemals eine Person wirklich bloß. Selbst diverse Anfeindungen, die erwartbar oder eben nicht erwartbar sind, lässt Olivia Jones urteilsfrei stehen und verlässt sich auf das altbewährte Motto: Macht euch selbst ein Bild davon. Jedes Kapitel wird von einer prominenten Person abgeschlossen, die den Weg von Olivia ein Stück begleiten durfte. Dazu wurde wohl eine Art Fragebogen versendet, den manche ausführlich und lebendig und andere so langweilig und fantasielos wie eine Steuererklärung ausgefüllt haben.

Private Fotos und Grüße von Freunden und Freundinnen

Noch dazu sind diese Ausführungen durch unscheinbar, nochmal grau unterlegtes Papier abgehoben, was weder dem bunten Motto, noch dem Charakter der Befragten entgegenkommt. Ein Foto von den Befragten, am besten mit Olivia Jones, wäre ergänzen auch schön gewesen. Private Fotos von Oliver Knöbel bzw. Olivia Jones gibt es im Mittelteil des Buches allerdings viele. Erst jetzt fällt auf, dass auch heute noch bei der optischen Inszenierung von Olivia Jones doch mehr als ein Hauch Gothic und New Romantics einfließen. Dass solche Fotodokumente immer in der Mitte des Buches gebündelt werden, liegt an der anderen Papierart. Schöner wäre es natürlich, wenn man die Fotos entsprechend zu den Beschreibungen hätte. Witzigerweise ist es immer wieder Thema, dass man Oliver Knöbel ohne Schminke nicht erkennen würde, was man sich schon anhand der markanten Stimme kaum vorstellen kann.

Eine Multifunktionstranse bringt sich in die Gesellschaft ein

Es ist ganz schön viel, was Olivia Jones in “Ungeschminkt: Mein schrilles Doppelleben” gepackt hat. Auch wenn man von allem schon mal ansatzweise gehört hat, dann steht die Umtriebigkeit doch stark in Kontrast zu der Zeit, in der sie überhaupt in den Medien wirklich wahrgenommen wurde. Kandidatur zur Bürgermeisterin, das Kinderbuch “Keine Angst in Andersum”, ein Burnout, das Hosten von diversen TV-Formaten, das Absägen der eigenen Beinknochen wegen Rückenschmerzen, regelmäßige Schönheitsoperationen, ein Techtelmechtel mit einer bekannten Person – und das ist auch gut so! – und nicht zuletzt lässt sich sich auch nicht die Chance entgehen, sehr genau auf die aktuelle Corona-Situation und die Auswirkungen für St. Pauli und somit ihr direktes Umfeld hinzuweisen. Eine wie Olivia Jones lässt sich nicht so leicht unterkriegen, das ist klar, aber irgendwo haben alle eine finanzielle und vor allem psychische Grenze.

Schmökert sich gut weg

Wie man an den vielen Einträgen unter “Bücher” hier sehen kann, lese ich sehr viel und noch dazu lese ich massig abseits von und für krachfink.de. regelmäßig. Dass ich ein Buch komplett auf einen Rutsch gelesen habe, ist allerdings schon so lange her, dass ich mich nicht erinnern kann. “Ungeschminkt: Mein schrilles Doppelleben” von Olivia Jones wurde aber in guten vier Stunden am Stück verschlungen. Das Besondere an dieser Person ist, dass sie sich nicht lange damit aufhält, andere zu verurteilen und zu verteufeln. Das gilt für die, die vermeintlich ganz unten sind, genauso, wie für die, die vermeintlich ganz oben sind und trotzdem keinen schönen Charakter haben.

Olivia Jones verbindet und reicht die Hand nach oben und unten, ohne sich wie ein Chamäleon für den eigenen Vorteil durchzumogeln. Unterstützt wurde Olivia Jones für das Buch von Lena Obschinsky, die im Umfeld der Dragqueen einen großen Teil journalistische Arbeit übernimmt. Man merkt also, dass die beiden sich nahe stehen, denn die Wortwahl klingt authentisch nach Olivia Jones, der sprachliche Ausdruck ist kurzweilig und trotzdem nicht unterkomplex. Ein schönes Buch, das sich leicht wegschmökern lässt und trotzdem der Person wahrscheinlich noch nicht mal im Ansatz gerecht wird, denn da steckt noch viel mehr dahinter.

Seiten: 288
Verlag: Rowohlt Taschenbuch
ISBN-10: 3499004151
ISBN-13: 978-3499004155
VÖ: 21.04.2021

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