Sophie Passmann – Komplett Gänsehaut – Review
Die Autorin und Radiomoderatorin Sophie Passmann hat ihr drittes Buch “Komplett Gänsehaut” genannt und damit vielseitig deutbar betitelt. Nachdem der Titel über das Buch über “Frank Ocean” im Rahmen der Kiwi-Musikbibliothek gesetzt war, und ihr erster Roman schon vor Veröffentlichung wegen des (treffenden!) Titels “Alte weiße Männer – ein Schlichtungsversuch” vorverurteilt wurde, war das eine gute Entscheidung. Ihr mittlerweile drittes Buch wird jetzt schon in den Bestenlisten unter Biografien aufgeführt.
In einer ihrer Instagramstories, über die sie rund 220.000 Menschen erreichen kann (minus Bots und Mitläufer*innen, die sich schon beim Mitlesen irre engagiert vorkommen) beantwortete Passmann eine darauf abzielende Userfrage damit, dass das Buch nur teilweise autobiografisch sei. So richtig kann man das wohl – selbst als Autorin der Zeilen – zum Glück nie sagen. Als Leser*in schwankt man während der kurzweiligen Lektüre immer wieder zwischen angenehmen und angsteinflößenden Gänsehautmomenten. Die Ursache für das Entstehen einer Gänsehaut ist übrigens bis heute nicht vollständig geklärt.
Hier bleibt alles so, wie es ist
Sophie Passmann erzählt in ihrem neuen Roman “Komplett Gänsehaut” aus der Ich-Perspektive, die man als Leser*in nach einigen Seiten aber komplett für sich übernehmen kann. Dabei ist es vollkommen gleichgültig, ob man sich in den beschriebenen Endzwanzigern befindet oder diesen Lebensabschnitt schon längst durchlaufen hat. Die schlechte Nachricht für alle ist nämlich: So viel ändert sich nicht am Selbsthass, am scheiße finden der Mitmenschen und am ständigen Feilen von dem, was man gerne sein möchte. Und am zwangsläufigen Vergessen dessen, was man eigentlich aktuell tatsächlich ist.
Man verachtet sich weiterhin für den ganz routinierten Umgang mit Wörtern wie Schlafhygiene, Steuererklärung oder Weinprobe. Und es ändert sich auch nicht, dass ein Großteil aller Dinge in der Vorstellung schöner sind, als in der Umsetzung. Die aktuelle Situation drängt einem geradezu auf, die Welt möglichst zynisch zu betrachten. Trotzdem ist Zynismus ein Handwerk, eines das Sophie Passmann perfekt beherrscht. Ob das ihr Leben leichter oder schwerer macht, sei mal dahingestellt.
Besser lachen, als starren
Schonungslos beschreibt sie aus der sehr detaillierten Position von frisch geduschten, weißen Hockeymädchen und irre schlauen Schachjungs mit geraden Scheiteln, deren Eltern massig Bekannte im Ausland haben und schon zum Mittagessen Weißwein trinken, was der Unterschied zwischen scheiße und so richtig scheiße ist. Trotz aller Härte tut sie das so unterhaltsam und folgerichtig, dass man zwangsläufig erhellt wird und trotzdem lachen muss. Allerdings provoziert sie unterschiedliche Lacher. Peinliche, bittere, entlarvende oder auch einfach aufrichtig höhnisch hassende, weil sie genau die Personengruppe beschreibt, die uns die Galle hochsteigen lässt. Ganz unvermittelt dreht sie dann plötzlich den Spiegel um und in der eben noch belächelten Gruppe blickt einem das eigene Gesicht verblüfft entgegen.
Und ganz nebenbei stampft sie wie Godzilla in seinen besten Zeiten über etablierte Klischees. Sie entzaubert Viel-Leser genauso wie Freunde des minimalistischen Wohnen oder Menschen, die einen ganz klaren Trennstrich zwischen Nazis und der Generation Großeltern ziehen können. Sie nimmt unheimlich Druck raus, wenn sie schreibt, dass es diese ganz bestimmte Gruppe von Jugendlichen abseits der Mattscheibe nicht gibt und Sex in der Dusche genauso ungeil ist, wie Schneeballschlachten nach ungefähr 2,5 Minuten.
Wer schlau ist, kommt auf den Punkt
“Komplett Gänsehaut” verfängt sich manchmal in einer schon fast prosaischen Erzählweise und auch wenn Sophie Passmann bei der Herleitung würgen wird, das kommt ganz sicher vom Poetry Slam. Es stört den Lesefluss aber nicht. Im Gegenteil, man liest sich richtig in Rage und kann kaum fassen, wie viele Fakten Passmann in diese gerade mal 192 Seiten gepackt hat. Damit weist sie alle Verbaldünnscheißer in die Schranken, die ihre Leser*innen über 500 Seiten mit ihren langweiligen, nichtssagenden Wortketten nerven und ständig suggerieren möchten: Wer das nicht durchhält, ist dumm. Nein, andersrum ist es richtig: Wer schlau ist, kommt auf den Punkt.
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VÖ: 04.03.2021