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Tanja Bogusz – Das Mädchen mit dem Heiermann, Großwerden auf St. Pauli – Review

Eigentlich ist Tanja Bogusz Soziologin und Anthropologin, sie forscht derzeit an der Uni Hamburg zur Entwicklung eines interdisziplinären Feldkonzeptes für die Sozial- und die Naturwissenschaften. Den vermeintlichen Widerspruch dazu, ihre Kindheit auf St. Pauli, arbeitet sie in ihrem Buch „Das Mädchen mit dem Heiermann, Großwerden auf St. Pauli“ auf. Während ihre Oma Klasina dort als Damenringkämpferin tätig war und ihre Mutter im Nachtleben der Reeperbahn hinter der Bar des „Hotel Luxors“, schaffte Tanja Bogusz den Klassensprung. Der Kontrast der beiden Welten, in denen sie sich bewegte, war ihr stets unterschwellig bewusst. So richtig klar wurde ihr vieles erst nach dem Tod ihrer Mutter Barbara, als auf deren Beerdigung trauernde Menschen kamen, die offensichtlich die andere Hälfte des Lebens mit ihrer Mutter geteilt hatten und ihr als Tochter aber bis dahin komplett unbekannt waren.

Mit den Augen und Gedanken eines Kindes

In „Das Mädchen mit dem Heiermann, Großwerden auf St. Pauli“ erzählt Tanja Bogusz die Geschichte überwiegend aus ihrer damaligen Perspektive, also mit den Augen und Gedanken eines Kind. Die Stigmata sind erst nur vage spürbar. Dass ihre Mutter häufig betrunken nach Hause kommt, wechselnde männliche Bekanntschaften hat oder unter Tränen in nächtlichen Telefonanten mit der Oma ihre persönlichen Traumata aufarbeitet, kommt Tanja seltsam vor. Allerdings kennt sie nichts anderes und akzeptiert es dementsprechend.

Durch gute Noten in der Schule schafft sie beinahe zufällig die erste Sprosse nach oben auf der unsichtbaren Klassenleiter, macht neue Erfahrungen und entwickelt daraus andere Ansprüche an sich und ihr Umfeld. Ganz nebenbei ist das Buch auch eine schöne popkulturelle Erinnerung an die damalige Zeit, an die Kindheit und Jugend in Norddeutschland und die politischen Ereignisse und Auswirkungen auf die Bevölkerung.

Da Bogusz zu der Zeit selbst noch ein Kind war und gut abgeschirmt wurde, erfahren wir nur oberflächlich von dem bunten und zwielichtigen Treiben auf der Reeeperbahn. Ganz anderes, als in den Erinnerungen des Sohnes von Dakota-Uwe, der sich an viele explizite Szenen erinnert. Es sind eher die feinen Zwischentöne, die nachhallen, wenn man das verhältnismäßig schmale Buch weggelegt hat. Und genau wie Bogusz selbst, erfahren wir so manche Erkenntnis erst während des Lesens.

Eine schützende Milchglasscheibe zwischen früher und heute

„Das Mädchen mit dem Heiermann, Großwerden auf St. Pauli“ von Tanja Bogusz ist somit eher ein stilles Buch, scheint aus der zweiten Reihe erzählt zu werden. Mit Gefühlsbeschreibungen ist die Autorin sparsam, eher über die Gedanken lässt sich subtil ablesen, dass es sich um wegweisende Situationen handelt, die das Leben von Tanja Bogusz nachträglich beeinflussen werden. Es gibt gönnerhafte Männer, die die Mutter einladen und für sich gewinnen möchte. Die selbstbewusste Barbara stimmt nur unter strengen Bedingungen zu, lässt die Verehrer gerade nah genug an sich heran. Für Tanja Bogusz bleiben schöne Erfahrungen im Ausland und die Gelegenheit zu schnuppern, was abseits von St. Pauli möglich ist. Die Männer sieht sie aber nach den Reisen nie wieder, was entsprechende Auswirkungen auf sie gehabt haben wird.

Unterm Strich wandelt Bogusz ihre Erfahrungen bestmöglich um, erkennt die emanzipatorischen Züge von Mutter und Großmutter und kann diese mit ihren verbesserten Möglichkeiten anders einsetzen. „Das Mädchen mit dem Heiermann, Großwerden auf St. Pauli“ von Tanja Bogusz verurteilt nicht, hebt gute Eigenschaften hervor und nimmt die weniger schönen als Phänomene der damaligen Zeit hin.

Seiten: 224
Verlag: Rowohlt Taschenbuch
ISBN-10:  3499015404
ISBN-13: 978-3499015403
VÖ: 16.07.2024

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Tanja Bogusz Website

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