
Tocotronic – Golden Years – Review
Es gibt Bands, deren Musik Balsam für die Seele ist, ein zumindest kurzfristiger Kitt für kleine Risse im Gemüt. Dementsprechend kommen TOCOTRONIC mit ihrer neuen Platte „Golden Years“ gefühlt schnell – die drei Jahre seit „Nie wieder Krieg“ verflogen wie im Zeitraffer – aber immer gut gelegen. Nach 20 Jahren zum Trio zusammengerückt, befasst sich die Band wieder näher mit dem Individuum, der zeitgeistige Bezug ergibt sich automatisch. Der Albumtitel verängstigt etwas und könnte auch als Antrag auf die Rockrente verstanden werden. Wer richtig zuhört, weiß: weit gefehlt.

Zwischen Lebensfreude und Existenzängsten
Selbst wenn die ersten beiden Songs auf „Golden Years“ von TOCOTRONIC den unvermeidbaren Tod in die Zange nehmen, strahlt die Platte eine schon fast väterliche Sicherheit und beruhigende Wirkung aus. Die Zweifel sind weiterhin präsent, ebenso wie die Ängste, aber wir sind noch am Leben und es geht immer weiter. „Bleib am Leben, zurück ins irre Glück…“ Sein Gespür für prägnante Textzeilen hat Dirk von Lowtzow fest verinnerlicht. Ebenso wie seinen Humor, für den man besonders aufmerksam hinhören muss.
Dann findet man die Wortspielereien und absurden Bilder, die er beispielsweise in seiner realistischen Beschreibung des Rockstarlebens im westernhaft nach vorne zuckelnden Titelsong oder im kernigen „Ein Rockstar stirbt zum zweiten Mal“ abruft. Bei Letzterem verfallen TOCOTRONIC kräftigen, sprunghaften Rhythmen, und die rohe, ungebändigte Energie verströmt beinahe den gleichen wilden Charme wie die frühen Werke, ohne dabei in Nostalgie zu verfallen.
Eskapismus und Zwangsoptimismus: Das Spiel mit der Hoffnung
Musikalisch wagen TOCOTRONIC keine offensichtlich großen Sprünge, was in Anlehnung an den Albumtitel als sanfte Verweigerung und freundlicher Hinweis auf die bereits erfolgten Experimente verstanden werden darf. Lediglich das von Harmonika und Maultrommel exotisierte „Niedrig“ sticht heraus. Sehr bildhaft komponieren TOCOTRONIC hier den beschwerlichen Weg durch einen Tunnel, stets gelockt vom vermeintlich am Ende erstrahlenden Licht.
Der Song „Mein unfreiwillig asoziales Jahr“ wirkt wie ein Konter auf diese Anstrengungen, mit denen man das Leben angehen kann. Sitzen und starren, statt schuften und graben, so kann man den Zustand „Golden Years“ auch skizzieren. Auch „Vergiss die Finsternis“ ist einerseits wie der gut gemeinte Rat, es mal mit Eskapismus und einer satten Portion Zwangsoptimismus zu versuchen, der dann am Ende jedoch doch nicht hilft. Die Botschaft steht im direkten Kontrast zur dynamischen Musik, die dadurch entstehende Resonanz ist ein unverkennbares Trademark von TOCOTRONIC.
Vertraut und im besten Sinne klar
„Golden Years“ von TOCOTRONIC fühlt sich an wie eine unerwartete Postkarte von einem lieben Menschen. Im besten Sinne vertraut und trotzdem eine beruhigende Klarheit im Blick auf die Welt vermittelnd. Noch sind wir da, macht euch nicht so viele Sorgen. Diese Sammlung von Reaktionsmöglichkeiten auf Angst, Tod, Verlust und das Gefühl von Machtlosigkeit hat kein Verfallsdatum. Das Album schließt mit dem tröstenden, schon fast wie ein Schlaflied wirkenden „Jeden Tag ein neuer Song“ ab, leicht wie eine Feder fällt er herab und legt einen sanften Schleier der Resilienz über uns – das hält mindestens für ein paar Stunden.
Dauer: 38:12
Label: Epic
VÖ: 14.02.2025
Tracklist „Golden Years“ von TOCOTRONIC
Der Tod ist nur ein Traum
Bleib am Leben
Golden Years
Ein Rockstar stirbt zum zweiten Mal
Denn sie wissen, was sie tun
Mein unfreiwillig asoziales Jahr
Niedrig
Vergiss die Finsternis
Wie ich mir selbst entkam
Bye Bye Berlin
Der Seher
Jeden Tag ein neuer Song
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