Tom Hillenbrand – Lieferdienst – Review
„Lieferdienst“ von Tom Hillenbrand ist eine bitterböse Dystopie über die Entwicklung von Kapitalismus, im tiefsten Inneren wissen wir alle, dass er damit verdammt nah dran ist. Wir fliegen mit dem Bringer Arkadis über Neu-Berlin, während der in schnellstmöglicher Geschwindigkeit im Auftrag von Rio mit seinem Hoverboard Waren zustellt. Aufträge dafür werden mehrfach vergeben, wer zuerst bei den Kunden ankommt, macht den Deal. Der Konsum hat absurde Ausmaße angenommen: Flatrates für Schuhe, Anprobierandroiden, jederzeit und allerorts Essenslieferung und niemand muss dafür das Haus verlassen. Waren werden mit 3D-Drucker erstellt und Produktionsüberschuss wird rücksichtslos in Kauf genommen. Nicht nur der letzten Generation gefällt das ganz und gar nicht.
Höher, schneller, weiter… und dann?
Man findet sich schnell in „Lieferdienst“ von Tom Hillenbrand zurecht. Trotz vieler neuer Begriffe erscheint das Szenario nicht abwegig und man versteht das fiktive System sofort. Höher, schneller, weiter, so lautet das allgegenwärtige Motto und aktuell kann man sich auch keine andere Entwicklung unseres Konsumverhaltens vorstellen. Arkadis‘ Vater ist der Anker zu unserer Gegenwart und einer der wenigen, die sich noch in die vereinzelten Geschäfte verirren und den sogenannten Fortschritt kritisch sehen. Auch sein türkischer Freund Ufuq ist boden- und vor allem selbstständig, reagiert gelassen auf die Umstände, während Arkadis immer mit einem Auge auf sein Ranking schielt, versucht möglichst gut abzuliefern und seinem Arbeitgeber zu dienen.
Immer geil abliefern?
„Lieferdienst“ von Tom Hillenbrand kommt schnell auf den Punkt, der Autor passt sich der Geschwindigkeit der Zukunft an. Bei einem eigentlich normalen Arbeitstag gerät Arkadis in mehrere ungewöhnliche Situationen, beobachtet den Tod seines Kollegen Airbox und wird in mysteriöse Machenschaften verwickelt. Es handelt sich um den nächsten Schritt des Kapitalismuswahnsinns, damit wird auch für den Bringer Arkadis eine Grenze erreicht.
Auch auf der Suche nach dem schnellen Endorphin-Kick?!
Tom Hillenbrand trifft mit „Lieferdienst“ tatsächlich einen wunden Punkt unserer bestellwütigen Gesellschaft. Ganz beiläufig unterfüttert er seine Idee mit der Vorstellung von SILO mit 100 Stockwerken und gleich geschnittenen Wohnungen, benannt nach bekannten Figuren unserer Gegenwart und streut Brotkrumen zu der guten, alten Zeit, die wir alle aktuell gerade erleben.
Das Gefühl unnötig zu bestellen, Kartons im Wohnungsflur zu horten und dann frustriert zur Retoure in die Postfilialen zu gurken, um mit anderen Gleichgesinnten nervig lange anzustehen, kennen sicherlich viele. „Lieferdienst“ spitzt unser krankes Kaufverhalten zu und appelliert subtil an unser Unterbewusstsein. Vielleicht beim nächsten Mal auf den schnellen Endorphin-Kick verzichten und besser nicht auf „Bestellung abschicken“ klicken?
Seiten: 192
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
ISBN-10: 3462006215
ISBN-13: 978-3462006216
VÖ: 15.08.2024
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