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Wendy Mitchell – Der Mensch, der ich einst war – Review

Die Britin Wendy Mitchell ist 56 Jahre alt, als bei ihr Alzheimer diagnostiziert wird. Im Buch “Der Mensch, der ich einst war” erzählt sie uns ihre beeindruckende Geschichte über den Umgang mit der Krankheit. Es ist keine fiktionale Erzählung, was das Buch natürlich noch nahbarer und intensiver macht. Sie arbeitet beim National Health Service als Teamleiterin, ihr Gedächtnis ist ihr Kapital und sie wird besonders für ihr gutes Merkvermögen und ihr strukturelles Vorgehen geschätzt.

Wendy kümmert sich auch nach Feierabend aktiv um ihre Gesundheit, ist stets um gute Balance bemüht und verhältnismäßig fit. Als sie beim Joggen stürzt und sich nicht erklären kann, wie es dazu kam, kommt der Stein ins Rollen. Nach kurzer Zeit steht die Diagnose fest.

Mehr als nur Vergessen

Wir begleiten Wendy in ihrer aktuellen Situation und erfahren aber auch viel aus ihrer Vergangenheit. Wie sie als Alleinerziehende ihre beiden Töchter groß zog. Wie sie sich handwerkliche Fähigkeiten aneignete, um für die Familie ein schönes Heim zu schaffen. Und wie hart sie daran arbeitete, auch beruflich etwas zu erreichen. In “Der Mensch, der ich einst war” schreibt sie Briefe an ihr altes Ich und beschreibt Begebenheiten, die ihr damals banal vorkamen und heute unmöglich umsetzbar und dementsprechend kostbar sind. Sie beschreibt den schleichenden Verlauf der Tatsache, dass ihre beiden Töchter sich mehr um sie kümmern müssen als umgekehrt und wie sehr sie darunter leidet.

Die mentale Stärke von Wendy Mitchell ist beeindruckend, man freut sich richtig mit ihr, wenn es ihr wieder gelungen ist, der Krankheit ein Schnippchen zu schlagen. Wenn sie Eselsbrücken oder provisorische Hilfestellen erfindet, um sich noch ein wenig länger ihre geschrumpfte Unabhängigkeit zu bewahren. Wir sind auch dabei, als Wendy von ihrem Arbeitgeber quasi aussortiert wird und dann aber mit viel Mühe und Einsatz durch ihre Tätigkeit als Alzheimer-Botschafterin eine neue sinnstiftende Aufgabe findet. Sie klärt auf, fährt quer durch die Republik, um Vorträge zu halten und steht für Studien und Forschung bereit. Das erfüllt ihren Tag und sorgt dafür, dass etwas Essenzielles von ihr bleibt und nachfolgend Betroffene auch eine menschliche und nicht nur eine faktische Stütze haben.

Einfach etwas festhalten

Wer bisher nur ein rudimentäres Verständnis von Demenz und Alzheimer hatte, kann durch “Der Mensch, der ich einst war” von Wendy Mitchell einiges dazulernen, Betroffene und deren Angehörige besser verstehen und unterstützen. Es geht nicht nur darum, manchmal etwas zu vergessen. Auch die atmosphärische Erinnerung und das Körpergedächtnis kommen abhanden. Die Selbstständigkeit nimmt ab und alltägliche, einfache Handgriffe können nicht mehr alleine ausgeführt werden. Wer möchte, kann Wendys Blog unter https://whichmeamitoday.wordpress.com/ verfolgen. “Der Mensch, der ich einst war” hantiert nicht viel mit Fremdwörtern, drückt aber auch nicht unnötig auf die Tränendrüse. Letztendlich erfährt der Leser viel über die Krankheit und deren Verlauf, sanft entlanggehangelt an einem echten Schicksal. Gleichzeitig macht Wendy Mitchell aber auch Mut und appelliert an mehr Dialog. Sie malt die Krankheit weder schön, noch vermittelt sie den Eindruck, dass das Leben mit der Diagnose vorbei wäre. Obwohl mich das Thema aktuelle überhaupt noch nicht persönlich tangiert, habe ich das Buch quasi verschlungen, da es packend und ehrlich ist.

Seiten: 304 Seiten
Verlag: Rowohlt Verlag
ISBN-10: 3499634104
ISBN-13: 978-3499634109
VÖ: 18.09.2019

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