Interview mit Nils von The Hirsch Effekt zum Album „Kollaps“
THE HIRSCH EFFEKT ziehen mit ihrem Albumtitel „Kollaps“ unfreiwillig ein krasses Marketingkonzept durch. Erstmal ausgebremst und wie alle anderen von der Kontaktsperre betroffen, können sie beobachten, wie schnell der Klimawandel – das zentral Thema ihres Albums – zum Positiven beeinflusst werden könnte. Gitarrist und Sänger Nils Wittrock nahm sich Zeit für ein kurzweiliges und sehr ausschweifendes Gespräch über das Album, den Klimawandel, Selbstreflexion und den Unterschied zwischen Verzicht und Alternativen.
Dass der Albumtitel “Kollaps” so gut zum aktuellen Zeitgeschehen passt, hattet ihr nicht geplant, richtig?
Dass er so doppelt gut zur aktuellen Situation passt, hätten wir uns nicht vorgestellt. Die andere Krise, auf die wir uns auf dem Album wirklich beziehen, die läuft ja auch die ganze Zeit im Hintergrund weiter. Wobei sich die beiden Krisen bedingen und sich die Coronakrise, wenn ich es richtig verstanden habe, sogar positiv auf das Klima auswirkt.
Die meisten MusikerInnen, mit denen ich bisher gesprochen haben, machen Musik in erster Linie, um auf die Bühne gehen zu können und das fällt jetzt für euch erstmal weg.
Ja, das fällt für uns weg. Und das ist für uns persönlich auch erstmal ganz schlimm. Wir machen das auch, weil wir Bock haben, Konzerte zu spielen. Da steckt sehr viel Vorlauf drin und es ist schon so, dass man ja während der Albumerstellung weniger Konzerte spielt, weil man die Zeit in das Album steckt. Und irgendwann soll sich halt alles auch mal auszahlen, wenn das Album eben fertig ist. Das fällt flach und ist frustrierend.
Habt ihr kurz überlegt, die Veröffentlichung von “Kollaps” zu verschieben?
Ja, im Februar haben wir zum ersten Mal darüber nachgedacht und uns dann dazu entschieden, das Album zu veröffentlichen, weil die Leute sicherlich doch Lust haben würden, dann Musik zu hören. Aber wir merken jetzt schon, dass das Kaufverhalten anders zu sein scheint. Von der Fanbox, die eigentlich bei den letzten beiden Alben gleich ausverkauft war, haben wir jetzt noch was übrig. Das mag daran liegen, dass nicht alle Händler am Start sind oder eben nicht alle in den Einzelhandel gehen können, um was zu kaufen. Man hofft eben, dass “Kollaps” jetzt nicht vollends verpufft.
Ihr habt aber, gerade weil ihr so besonders seid, doch auch eine sehr treue und stabile Fanbase und sicher eher weniger Fans, die von der Seite neu dazukommen, oder?
Die treuen Fans haben wir auf jeden Fall und wir erfahren auch sehr große Unterstützung über Patreon, da sind wir schon länger unterwegs. Dafür sind wir auch sehr, sehr dankbar. Aber natürlich hofft man, gerade über ein Album, auch mal andere, neue Leute zu erreichen.
Dann lass mal über “Kollaps” reden. Liegt es an mir oder klingen THE HIRSCH EFFEKT etwas strukturiert und weniger unkonventionell? Oder seid ihr einfach älter geworden?
Ja, (lacht) wir sind auch älter geworden, lässt sich leider nicht verhindern. Es ist nicht so, dass wir bei der Songerstellung darüber nachdenken, ob das jetzt unkonventionell klingt oder nicht. Wir haben ja viele Songs, die eigentlich Popsongs sind, bei denen harmonisch gar nicht so viel passiert. Dass “Kollaps” etwas schlichter ist, das würde ich so unterschreiben, das hat sich einfach so ergeben und war nicht beabsichtigt. Es gibt ja immer wieder Momente mit Brüchen und ganz dolle Ballernummer. Eventuell liegt es auch daran, dass “Kollaps” im Vergleich zu “Eskapist” eine Viertelstunde kürzer ist, also um ein Viertel der Länge gekürzt und eventuell erscheint es einem deshalb auch etwas kurzweiliger, schlichter und einfacher nachvollziehbar.
THE HIRSCH EFFEKT sind so bisschen der Horror von allen, die Reviews schreiben. Man weiß, dass ihr Ahnung habt und möchte kein dummes oder banales Zeug über euch schreiben. Wie wichtig ist es Dir, dass die Leute auch erkennen, was ihr euch rein handwerklich bei den Songs gedacht habt?
Grundsätzlich freue ich mich, wenn sich jemand mit der Platte beschäftigt. Wenn in den Reviews nur der Inhalt beschrieben wird, dann finde ich das doof (lacht) und am Ende dann noch eine Punktzahl. Im Metal ist es manchmal so, dass strikte Messlatten gelegt werden. So wie ‘für Metal zu jazzig’ oder ‘da kann man nicht so gut dazu bangen’. Sowas ärgert mich, aber ansonsten freue ich mich, wenn jemand was darüber schreibt und sogar emotional da rangeht. Ich erwarte nicht, dass jeder versteht, was wir uns inhaltlich oder musikalisch dabei gedacht haben.
Habt ihr über Feedback schon Neues über THE HIRSCH EFFEKT erfahren?
Ja, auch total oft von Fans. Ich habe über “Noja” schon Interpretationen gelesen und gehört, da wäre ich im Leben nicht selbst darauf gekommen. Aber genau das finde ich gut. Jeder soll ja das erkennen können, was er möchte.
Geht es bei dem Konzeptalbum “Kollaps” um den einen Kollaps oder auch darum, dass ein Kollaps meist weitere hinter sich herzieht?
(lacht) Ne, da weiß ich auch nicht, wie Du darauf kommst. Kann schon sein, dass ich das mal irgendwo behauptet habe und mich selbst nicht mehr erinnere. Es geht schon rein um den Klimakollaps.
“Domstol” scheint ja in der Zukunft zu spielen. Eine Person bekommt da einen emotionalen Kollaps, der aus dem vorangegangen Klimakollaps resultiert. Das eine bedingt schon das andere.
Super, aber habe ich nie so daran gedacht. Das Album ist ein Konzeptalbum, mit dem wir uns ganz platt in die Rolle der Fridays-for-Future-Bewegung begeben wollen. Deshalb die schwedischen Titel und “Domstol” ist eine Situation, die immer in den Reden von Greta Thunberg auftaucht. Dass sie das Bild aufmacht, wenn sie 75 ist und ihre Enkel zu ihrem Geburtstag kommen und sie fragen, warum sie damals nichts getan hat. Darum geht es in dem Song. Das kann also ihr Geburtstag sein, deiner oder meiner. Man wird gefragt, wie war das eigentlich damals und warum habt ihr nichts gemacht?
War also das Thema der Anstoß und die Inspiration für alle Songs?
Ne, wir schreiben immer erstmal Musik und ab irgendeinem Punkt haben wir so viele Songs, dass wir das Album als Form wahrnehmen und dann überlegen wir, worum es in dem Album gehen soll. Bei der Holon-Trilogie war alles noch sehr persönlich und schon bei “Eskapist” wurde es politischer. Auf das Thema für “Kollaps” kamen wir, als ich im März 2019 die Talkshow Anne Will geschaut habe und da war ein langes Interview mit Greta Thunberg vorgeschaltet. Das fand ich so interessant, dass gleich die Idee aufkam, das als zentrales Thema zu nehmen und auch Teile ihrer Rede herauszuschneiden und zu inhaltlich zu verwenden.
Ich nehme an, dass das Thema Klimawandel nicht erst seit März 2019 bei Dir im Kopf sein wird…
Da möchte ich gleich mal einhaken. Natürlich habe ich auch vorher schon davon gehört und ich bin aber nicht der Einzige, bei dem es so war, dass dieses Mädchen dieses Thema plötzlich wieder auf die Tagesordnung geholt hat. Genau das ist daran so spannend. Schon in den Neunzigerjahren bin ich so groß geworden, dass man sinnvoll mit den Ressourcen umgehen muss. Licht ausmachen, wenn man aus dem Raum geht und das Bewusstsein, dass das Benzin an der Tankstelle nicht unendlich vorhanden ist. Aber ich habe mich persönlich davon weg entwickelt und mir war dann nicht mehr so bewusst, dass ich alles der Generation hinterlasse, die nach mir kommt und daran auch erstmal gar nichts ändern kann, weil wir es schon verbockt haben.
Und die müssen dann damit leben. März 2019 war Greta auch noch nicht so im Fokus. Man wusste schon, dass es da ein Mädchen gibt, dass sich vor ein Regierungsgebäude gesetzt hat und es Nachahmer in Deutschland gibt und irgendwas ist da immer freitags. Aber das es so groß in den Medien kam, das war erst danach. Dass eine Person, ohne Strukturen und ohne Hintergrund mit einem selbst gemalten Schild das lostritt, was sie da losgetreten hat, das finde ich auf jeden Fall ein Album wert.
Seltsamerweise scheint Greta eher die Generationen vor ihr anzusprechen, noch mehr als ihre eigene. Durch ihre Erkrankung mit Asperger scheint sie auch sehr fokussiert auf dieses Thema zu sein und vollkommen überzeugt von ihren Aussagen. Diese Dringlichkeit spürt man und das macht es eventuell so ergreifend.
Genau, das empfinde ich auch so. Sie sitzt da mit einer stoischen Ruhe und erzählt, dass sie ernsthaft davon ausgeht, dass die Welt untergeht und sie nicht versteht, dass sich anscheinend niemand dafür interessiert.
Der Opener “Kris” scheint von beiden Seiten zu funktionieren, geht es da um die Vertonung der Debatten und dem ständigen Rangeln um die richtige Meinung?
Klingt gut, aber es ist viel platter, als du sagt. Ich habe das Buch von Gretas Mutter gelesen und da beschreibt sie, wie die Geschichte eigentlich bei denen zu Hause angefangen hat. Da geht es darum, dass sie einfach nichts mehr gegessen und daheim auch nicht mehr gesprochen hat und das letztendlich in die Aktion mit dem Schild mündete. Es geht um den Start dieser Bewegung.