Lest die Review zu "Irre Wolken" von Markus Berges bei krachfink.de

Markus Berges – Irre Wolken – Review

Der Autor und Musiker Markus Berges (ERDMÖBEL) legt mit “Irre Wolken” einen Roman vor, dessen Prämisse eigentlich vorhersehbar zu sein scheint. Doch schon nach wenigen Seiten wird klar, dass Berges deutlich mehr herausholen kann und wird. Mit seinem virtuosen Wortschatz treibt er uns behutsam immer weiter und tiefer in der Geschichte um einen Neunzehnjährigen, der in der Psychiatrie Ende der Achtzigerjahre seinen Zivildienst ableistet.

Er wird mit dem echten Leben konfrontiert und als die Patientin Anne Schmidt ihr Quartiert bezieht, begegnet ihm vollkommen unverhofft die erste Liebe seines Lebens. Die Welt um sich herum komplett ausblenden, ungesund auf sich selbst fokussiert sein, Berges verwebt die Parallelen von Liebe und Wahnsinn. Er erzählt seine Geschichte in einem angenehmen Tempo, bindet und eng an die Protagonisten und lässt das Wesentliche im kleinen Kreis passieren.

Das echt Leben fordert

Mit seinem Buchtitel “Irre Wolken” nimmt Markus Berges Bezug auf den Reaktorunfall in Tschernobyl, der sich genau zu diesem Zeitpunkt ereignet, als unser namenloser Hauptcharakter seinen Zivildienst in der “Hülle”, so der umgangssprachliche Name für die Psychiatrie, ableistet. Damals nicht selbstverständlich, echte Männer sollten zum Bund gegen und sich nicht mit den Durchgeknallten – damals nur eine der vielen despektierlichen Verwendungen für die Patienten und Patientinnen solcher Einrichtungen – abgeben. Die Bedrohung durch Strahlenexposition rückt für ihn verhältnismäßig schnell in den Hintergrund, denn sein Aufgabengebiet fordert ihn, die vielen vom Leben und von Traumata gezeichneten Menschen verlangen ihm einiges ab.

“Das Vakuum” von ERDMÖBEL, die Band bei der Markus Berges seit 1996 singt und textet.

Seine Anziehung zur ähnlich alten Patientin Anne Schmidt entsteht erst nach und nach. Dabei will sie ihm bei der ersten Begegnung mit einem Wasserhahn den Kopf einschlagen und präsentiert sich wahrlich nicht liebenswert. Die beiden näheren sich schrittweise ein, wenn auch nicht im klassischen Sinne. Als Anne dann auf dem Weg der Besserung scheint, nimmt sie sie bei einem Spaziergang Reißaus und erst da greift “Irre Wolken” von Markus Berges seinen eigentlichen Erzählpfad auf.

Ein Trip zu einem neuen Selbst

Das Schönste an “Irre Wolken” ist die Tatsache, dass es eine herrlich einlullende Wirkung hat. Das Tempo von Markus Berges ist angenehm ruhig, trotzdem jongliert er die Sätze gekonnt und lässt leisen Humor einfließen. Ich bilde mir ein, dass man an der Dynamik des Textes und dem Timing spüren kann, dass Markus Berges Musiker und Texter ist. Besonders den Umgang zwischen den Bediensteten der Psychiatrie beschreibt er authentisch, hinter dem obligatorischen “Ich könnte das ja nicht, was du beruflich machst” steckt viel Feigheit, aber auch eine Prise Wahrheit. Es gelten besondere, eigene Gesetze in sozialen Berufen, für ausschweifende Gesprächsrunden ist keine Zeit, Fürsorge und Verantwortung stehen im Vordergrund.

“Irre Wolke” als Roadtrip zu bezeichnen wäre falsch, aber der Protagonist erlebt mit Sicherheit eine Art Trip zu einem anderen Selbst und es macht wahnsinnig Spaß, ihm zu folgen. Berges hat unheimliches Feingefühl, ganz offensichtlich sehr gut recherchiert und darüber nachgedacht, wie genau sich das damals angefühlt hat, als man diesen einen wesentlichen Entwicklungsschritt gemacht hat. Er weiß worauf es ankommt, verwendet selbsterklärende Worte wie “lederknarzend” oder “brüllflüstern”. Ein herrliches Buch, mit leisem Tiefgang und Nachhall, dessen Inhalt man aktiv und rückblickend genießen kann.

Seiten: 288
Verlag: Rowohlt Taschenbuch
ISBN-10: 3737101035
ISBN-13: 978-3737101035
VÖ: 30.01.2024

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