Anne Stern – Fräulein Gold: Nacht über der Havel (Band 7) – Roman
Die Bestseller-Autorin Anne Stern scheint auf eine unerschöpfliche Kreativquelle gestoßen zu sein und legt mit „Fräulein Gold: Nacht über der Havel“ einen neuen packenden Band ihrer Hulda-Gold-Saga vor. Betrachtet man nur diese zusammenhängende Erzählung, wirkt der Veröffentlichungsrhythmus noch gewöhnlich. Doch die Berlinerin verfasst zudem weitere Romane, alle mit Bezug zu ihrer Heimatstadt. Ihre Werke bieten somit nebenbei auch immer ein unaufdringliches Stück Geschichtsunterricht.
Drohende Gefahr: Die Vorboten der NS-Zeit
An der Seite der Hebamme Hulda Gold, die mittlerweile in einer Mütterberatungsstelle am Nollendorfplatz arbeitet und die praktische Arbeit stark vermisst, wandern wir nun schon seit mehreren Jahren durch das Berlin der Zwanziger- und Dreißigerjahre. Neben popkulturellen, gesellschaftlichen und politischen Fakten steht vor allem die damalige Rolle der Frau und die geistige Emanzipation im Mittelpunkt der Erzählung. Anne Stern verschont uns in „Fräulein Gold: Nacht über der Havel“ noch mit den Schrecken der Nazis, die von 1933 bis 1945 grausam ihre Macht ausübten. Doch die Schlinge zieht sich merklich zu, und als Jüdin ist Hulda Gold natürlich im Fokus der erstarkenden Hitler-Anhänger.
Sie wird zudem in die Aufklärung eines Mordfalls hineingezogen, der in Verbindung mit der HJ und dem „Bündische Jugendgruppe“ steht. Denn abseits von Liederabenden, Wanderungen und Übernachtungen am See, sind die Jugendlich noch in ganz anderes verstrickt und schon damals waren die Braunen auf der Suche nach jungem Nachwuchs. Trotz einiger heftiger Schicksalsschläge und den letzten Jahren geht es Hulda aber verhältnismäßig gut: Ihre Beziehung zu Professor Max Dessauer – der reale Philosoph, Mediziner und Psychologe, den die Autorin für den Roman zum Leben erweckt – läuft stabil und ihre quietschfidelen Tochter Meta bereitet ihr zwar viel Arbeit, aber noch mehr Freude.
Ein Spiegel der Gesellschaft
Es ist vielmehr Huldas wachsames Auge, das ihr die Ängste und Sorgen der Menschen in ihrem Umfeld deutlich vor Augen führt und auf die Laune drückt. So sorgt sich ihr Freund Bert um seinen schwerkranken Lebensgefährten und muss sich als Homosexueller weiterhin in dunklen Ecken verstecken. Hulda unterstützt die beiden, so gut sie kann. Auch die von der Arbeitslosigkeit betroffenen, hungernden Menschen bleiben ihr ebenso wenig verborgen, wie die immer härter werdenden Reden der rechten Parteien.
Und auch die zunehmende Kälte, die sich in der Gesellschaft breitmacht, entgeht Hulda also nicht und alarmiert sie entsprechend. Anne Stern hat ihre Hauptfigur nicht nur mit klarem Verstand, sondern auch mit einem großen Herzen ausgestattet. Die integre Hulda ist für die Leserinnen und Leser ein steter Lichtblick und ein Ankerpunkt, insbesondere angesichts des Wissens um den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte und das kommende Leid. Auch in „Fräulein Gold: Nacht über der Havel“ verwendet Anne Stern diese verheerenden Elemente nicht als effekthascherische Mittel, sondern beschreibt detailverliebt das Berlin jener Zeit – mit seinen unterschiedlichen Menschen und all ihren Höhen und Tiefen.
Historische Genauigkeit und Detailtreue
Eine der Stärken von Sterns Werk ist die sorgfältige Recherche und die Einbettung von historischen Details. Regelmäßig legt man das Buch beiseite, um nachzuschlagen, ob ein Ereignis fiktiv oder real ist. Es sind vor allem vermeintliche Kleinigkeiten, die ein stimmiges Bild der damaligen Zeit schaffen: So verbot der Gau Thüringen 1931 tatsächlich Jazz, Frauen durften im Polizeidienst keine Waffe tragen und auch die Geschichte der Luft Hansa (damalige Schreibweise) lohnt sich nachzulesen. Die Verweise die Eröffnung des Pergamonmuseum, damals aktuelle Musik, Kinofilme, Kulinarik und besondere Ausdrucksweisen wie vierschrötig sind ebenso interessant.
Ein literarisches Nachhausekommen
Wenn es an „Fräulein Gold: Nacht über der Havel“ überhaupt etwas zu bemängeln gibt, dann ist es das Artwork, denn es erweckt den Eindruck von Trivialliteratur. Nur der „Spiegel-Bestseller“-Sticker deutet darauf hin, dass es sich um tiefgründige, wertvolle Literatur handelt. Anne Stern zeichnet ihre Figuren so lebensecht und nachvollziehbar, dass man sich über erneute Begegnungen mit ihnen freut – selbst wenn sie nicht immer sympathisch sind. Der neue Band fühlt sich also wieder an wie ein Heimkommen und der konstant stattliche Umfang der Bücher zeigt, dass es der Autorin weder an Ideen noch an Leidenschaft für ihre Saga mangelt.
Seiten: 448
Verlag: Rowohlt
ISBN-10: 3499013401
ISBN-13: 978-3499013409
VÖ: 12.11.2024
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