AnnenMayKantereit-12

AnnenMayKantereit – 12 – Review

Das Album “12” von ANNENMAYKANTEREIT war plötzlich da. Wie Krisen, die sich meistens auch nicht ankündigen. Manche HörerInnen lieben Überraschung, wieder andere zelebrieren die Vorlaufzeit. Das Trio hat sich bei der ruckartigen Veröffentlichung und bei dem Albumtitel ganz sicher etwas gedacht. Es ist üblich, dass Künstler*innen versuchen den Zeitgeist einzufangen. Genau deshalb sind sie und ihre gesteigerten Möglichkeiten, sich anders auszudrücken als der Durchschnitt, so wichtig für eine gesunde Gesellschaft. Was ANNENMAYKANTEREIT gelungen ist, ist schon fast beängstigend. In knapp 38 Minuten lassen sie uns den bisherigen Verlauf der Pandemie in drei Akten nochmals erleben. Dieses Gefühl, ziellos im freien Fall zu sein, lässt sich selbstverständlich auch auf andere Lebenslagen übertragen. Das Happy End steht noch aus.

Von Gefühlen in die Luft gesprengt

“12” startet tief unten. Reduziertes Klavier, hallender Klang. Es wirkt so, als seien ANNENMAYKANTEREIT alleine in einer großen, menschenleeren Manege. Niemand mehr da, die dicken Samtvorhänge verstaubt, wo sind denn alle? Erschütternd, traurig und aussichtslos wirkt alles. Henning stellt die richtigen Fragen zur Krise, er benennt die Hilflosigkeit, von der wir anfangs alle wie gelähmt waren (“So wies war”, “Gegenwart”). Woher kommt plötzlich all das Geld und woher kommen all diese Tränen? Wie dumm sind wir Menschen eigentlich, wie kalt und herzlos? Während es in Moria, letztendlich im wahrsten Sinne des Wortes, brannte, lassen wir zu, dass Zuckerberg, Lieschen Müller und Co im Netz die Wichtigkeit der Meldung mithilfe eines Algorithmus bestimmen. Ein weiterer, trauriger Höhepunkt wurde gerade letzte Woche erreicht, mittlerweile setzen sich sogenannte Querdenker mit Widerstandskämpfern gleich.

Doch musikalisch krabbeln ANNENMAYKANTEREIT von Song zu Song immer eine Sprosse höher auf der Stimmungsleiter. Richtig gelöst wird es nicht, aber die Band packt immer mehr Hoffnung zwischen die Noten (“Aufgeregt”, “Warte auf mich (Padaschdi)”). Fernweh mischt sich dazu, Ungeduld und dringende Mahnungen, auf diejenigen aufzupassen, die gerade nicht so laut schreien und daheim im Stillen verzweifeln und leiden (“Spätsommerregen”). “12” macht auch Hoffnung. Hoffnung darauf, dass es bald besser wird und man Umarmungen, Kultur und Nähe vielleicht mehr schätzen kann.

Wenn es niemanden mehr interessiert?

ANNENMAYKANTEREIT haben für “12” ganz besondere Formulierungen gefunden und tippen damit unangenehm genau auf die wunden Punkte, mit denen sich unsere Gesellschaft und jede/r Einzelne in den letzten Monaten auseinandersetzen musste, sollte oder durfte. Stark philosophisch, sehr schlau reflektiert und gedanklich in fast alle Richtungen offen. Doch im letzten Drittel scheinen ANNENMAYKANTEREIT wieder scharf ausgebremst zu werden, die kurzzeitige Leichtigkeit weicht einer dichten Schwere. Eiskalt erwischt vom Regen, von den dunklen Tagen und den destruktiven Gedanken. Das Album nimmt zwar eine düstere, aber auch beruhigende Haltung ein. Keine Ahnung, wo es lang geht und auch null Plan, was passieren wird. Aber wir bleiben optimistisch.

Hoffentlich bald ein alter Traum

Es ist die Enttäuschung über die ewigen Vertröstungen in fast allen wesentlichen Fragen (Stillstand beim Thema Klimawandel, der Mangel an respektvollem Umgang mit allen Menschen…) und die Erschütterung über die Rücksichtslosigkeit von Vielen, die uns am Ende doch vereint (“So laut so leer”). Jeder einzelne Ton ist von echten Emotionen aufgeladen. ANNENMAYKANTEREIT haben aus meiner Sicht mit “12” ein bemerkenswertes Album vorlegt, das einerseits stark berührt, für das man sich aber auch dringend wünscht, das es sich in einigen Jahren wie ein längst verblasster, schlechter Traum anfühlen wird (“Die letzte Ballade”). Wer an ANNENMAYKANTEREIT denkt, kommt auch schnell auf RIO REISER. Ein Zitat von ihm – “wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten” – ist der perfekte Schluss für diese Review.

Dauer: 37:44
Label: Irrsinn (Universal Music)
VÖ: 20.11.2020

Tracklist “12” von ANNENMAYKANTEREIT
Intro
So wies war
Gegenwart
Gegenwartsbewältigung
Zukunft
Vergangenheit
Spätsommerregen
Warte auf mich [Padaschdi]
Paloma
Ganz egal
Aufgeregt
Interlude
So laut so leer
Das Gefühl
Die letzte Ballade
Outro

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