Die Nerven – s/t – Review
Das beste, deutschsprachige Rockalbum 2022 kommt von DIE NERVEN und heißt „s/t“. Bis hierhin keine große Überraschung, für alle, die die Band selbst und den zahlreichen musikalischen Abzweigungen von Drummer Kevin Kuhn, Gitarrist und Sänger Max Rieger und Bassist und Sänger Julian Knoth folgen. Überraschend sind eher die seismografischen Fähigkeiten der drei Musiker und die Tatsache, dass ihr Album, welches im Sommer 2021 noch überspitzt und besonders dystopisch gewirkt haben muss, die aktuellen Weltgeschehnisse erschreckend präzise aufgreift.
Gepaart mit der Tatsache, dass das Trio musikalisch im bestmöglichen Sinne gereift ist, liegt und nun ein zukünftiger Klassiker von popkulturellem Wert vor. Dass DIE NERVEN als Band mittlerweile eine Art unkontrollierbares Eigenleben entwickelt haben, sorgt dafür, dass diese ganz besondere Unberechenbarkeit erhalten bleibt.
Musik über die falsche Zeit
Den Opener „Europa“ haben DIE NERVEN bereits vor einigen Monaten, gemeinsam mit dem RTO (Rundfunk Tanzorchester), beim Neo Magazin Royale präsentiert. Ein schönes Zeichen für das Erstarken von Rockmusik, die abseits der üblichen Strukturen komponiert ist und deren Inhalte nicht mit dem Holzhammer vorgetragen werden. Das Artwork ziert ein schwarzer Schäferhund. Sollte das Tier exemplarisch für Deutschland stehen, sieht es also düster aus. Aber, Überraschung, falls nicht, dann auch. In dem, vorrangig von Julian Knoth beachtlich gut gesungenen, Song „Ich sterbe jeden Tag für Deutschland“ lehnen sich DIE NERVEN weit aus dem Fenster.
Der tanzbare Post-Punk-Kracher wird von weichen und eingängigen Synthies umhüllt, geht sofort ins Ohr. Der harte Text konterkariert das Idyll brutal. Keine Zeit mehr, um zu bedauern. Zeit zu handeln und Zeit für einen radikalen Neuanfang. Mit „Ganz Egal“ scheinen sich DIE NERVEN aus der Zukunft eine Botschaft in die Vergangenheit zu singen. Getrieben von der panischen Fröhlichkeit von Einem, der sich schon im freien Fall befindet, reflektiert Knoth den Status Quo und bezieht sich ganz dezent auf „Niemals“ vom Album „Fake“. Die Gitarren – was für ein Sound! – eskalieren gemeinschaftlich mit dem Drumming von Knoth. Aufprall. Ende. Kein Neustart.
Baby, setz den Wagen an die Wand
Es mag sein, dass Max Rieger Texte wie „Ein Influencer weint sich in den Schlaf“ oder „15 Sekunden“ einst als Kritik an den Auswirkungen von Sozialen Medien verfasst hat. Fakt ist, dass die Tragik vom erstgenannten Song, die DIE NERVEN unter anderem eindrucksvoll mit Streichern verdeutlichen, tatsächlich für einige Betroffene rasant zur Wahrheit wurde. Die Lust auf die bunten, gefakten Stories – Na, ihr Lieben?! Schreibt’s mir in die Kommis – verfliegt, wenn die Bombeneinschläge lauter und schwerer zu ignorieren sind.
Der Tod läuft nicht gut auf Instagram
Auch „15 Sekunden“ ist bis ins letzte Detail und auf allen Ebenen ausformuliert. DIE NERVEN bedrängen sich musikalisch selbst, ziehen einen engen, musikalischen Kreis, der uns beinahe die Luft abschnürt. Das von Rieger gesungene „Es ist zu viel“ erscheint befreiend, löst uns letztendlich aber als Menschen auf und verdeutlicht die krankhafte Entfremdung, die Social Media befeuert. Selbst, wenn die Instastory nun auf 30 Sekunden ausgeweitet wurde…
Über Werte und ihren Verfall
„Der Erde Gleich“ ist mit Sicherheit einer der kompositorischen Meisterleitungen von DIE NERVEN. Die Band inszeniert sich wie ein Theaterstück und nähert sich dem Zusammenspiel von Menschheit und Erde aus drei unterschiedlichen, aber miteinander verknüpften, Perspektiven. Abgesehen vom tiefgründigen und auf das Wesentliche reduzierten Text, der vorbildlich mit Worten und Bildern jongliert, erzählen das Trio die komplette Story auch flankierend dazu mit ihren Instrumenten.
Kuhn drischt nach dem ersten Drittel auf sein Drumkit ein, endlich mal wieder ein typischer DIE NERVEN-Livemoment auch auf Platte. Er vertont damit den system meltdown und gleich im Anschluss lassen DIE NERVEN die Menschheit mit ihren Instrumente aufgeregt in alle Richtungen ausströmen, wie aufgescheuchte Ameisen. Ohne Plan und ohne Ziel.
Intrinsische Motivation
„s/t“ von DIE NERVEN gibt keinen, aber wirklich keinen, einzigen Tipp, wie man irgendetwas besser machen können. Sie skizzieren nur die Umstände, stellen mögliche Zusammenhänge aus ihrem Blick dar. Das ist so erschreckend und eindringlich, dass es bei den Zuhörenden automatisch einen schmerzhaften Denkprozess auslöst.
Wenn viele denken und noch mehr handeln, dann ist das ein Anfang. Vielleicht heißt die Platte aus deshalb „s/t“, weil es Zeit wird, dass wir handeln. Der letzte Klavierton vom Finale in „180 Grad“, fühlt sich an, wie eine mahnende, feine Narbe, die durch „s/t“ zugefügt wurde…
Dauer: 37:05
Label: Glitterhouse Records
VÖ: 07.10.2022
Tracklist „s/t“ von DIE NERVEN
Europa
Ich sterbe jeden Tag für Deutschland
Keine Bewegung
Alles reguliert sich selbst
Ganz egal
Ein Influencer weint sich in den Schlaf
Erde gleich
15 Sekunden
Ein Tag
180 Grad
DIE NERVEN live:
13.10.2022 Jena, Kassablanca
14.10.2022 Bielefeld, Forum
15.10.2022 Köln, Gebäude9
19.10.2022 Rostock, MAU Club
20.10.2022 Magdeburg, Moritzhof
21.10.2022 Berlin, Huxleys
23.10.2022 Dresden, Groovestation
26.10.2022 Bremen, Tower
27.10.2022 Hannover, Bei Chez Heinz
28.10.2022 Flensburg, Volksbad
02.11.2022 Augsburg, Kantine
03.11.2022 Erlangen, E-Werk
04.11.2022 Chemnitz, Atomino
05.11.2022 Leipzig, Conne Island
09.11.2022 Marburg, KFZ
10.11.2022 Mannheim, Forum
11.11.2022 CH-Basel, Kaserne
12.11.2022 CH-Zürich, Bogen F
13.11.2022 Freiburg, Waldsee
14.11.2022 Wiesbaden, Schlachthof
15.11.2022 Stuttgart, LKA
16.11.2022 Ulm, Roxy
17.11.2022 München, Backstage
22.11.2022 Regensburg, Alte Mälzerei
23.11.2022 AT-Wien, Grelle Forelle
24.11.2022 AT-Salzburg, ARGE
26.11.2022 Koblenz, Circus Maximus
29.11.2022 Hamburg, Uebel & Gefährlich
30.11.2022 Münster, Gleis22
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