Joachim Meyerhoff Hamster im hinteren Stromgebiet

Joachim Meyerhoff – Hamster im hinteren Stromgebiet – Review

Der Schauspieler, Regisseur und Autor Joachim Meyerhoff legt mit „Hamster im hinteren Stromgebiet“ seine fünftes Buch vor oder wie es in Fankreisen heißt: Der neue Meyerhoff ist da! Vierzehn Jahre lang war der Sohn des Psychiaters Dr. Hermann Meyerhoff und Enkel der Schauspielerin Inge Birkmann (u.a. Derrick, Der Alte, Der Kommissar…) Mitglied im Ensemble des Wiener Burgtheaters, seit 2019 ergänzt er die Berliner Schaubühne und ist vereinzelt am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg zu sehen. Auch das neue Buch ist Teil der Reihe „Alle Toten fliegen hoch“ und befasst sich mit tatsächlichen Ereignissen, komplettiert durch die gefühlte und erfundene Wahrheit.

Zeit ist Hirn

2017 ereilte den Schauspieler aus heiterem Himmel ein Schlaganfall mit kurzzeitiger, einseitiger Lähmung. Das Prinzip Humor ist Tragödie plus Zeit, ist ihm gut bekannt und dementsprechend gelingt es ihm auch dieser Krise noch etwas Komisches abzugewinnen. Wir begleiten Meyerhoff bis in sein Krankenbett auf der Stroke Unit, nehmen an seinen Gedanken und Ängsten teil. Um die schlaflosen Nächte zu überbrücken, hält er sich mit Erinnerungen an unterschiedliche Urlaub an schönen Gedanken fest. Es geht mit seinem älteren Bruder nach Norwegen, mit einem Freund nach Anatolien, mit seiner neuen Liebe Sophie in den Senegal und mit der kompletten Patchwork-Familie nach Mallorca.

Nicht umsonst wurde das Buch in den Zyklus „Alle Toten fliegen hoch“ eingebunden. Meyerhoff hadert mit seiner Diagnose, seiner urplötzlichen Hilflosigkeit und der Ungewissheit. „Hamster im hinteren Stromgebiet“ lässt trotzdem keine einzige selbstbemitleidende Note anklingen. Es ist sein Umgang mit Vergänglichkeit, die Demaskierung des Scheiterns im Zusammenhang mit dem zwangsläufigen Verkümmern und die Wertigkeit von vermeintlich kleinen Momenten, die das Buch schlussendlich positiv aufladen.

Starker Beobachter

Scheinbar nichtige Beobachtungen, wie die bei der ihm auffällt, dass die Tochter die schlechten Augen des jung verstorbenen Bruders hat und die beiden sich nie im Leben gegenseitig in diesselben blicken, versetzen den LeserInnen zwangsläufig einen Stich. Im nächsten Moment bringt einen der „Skelettenwitz“ seines Vierjährigen wieder zum Lachen. Meyerhoff wird schmerzhaft klar, was es für ihn als Schauspieler bedeuten würde, sein Sprachvermögen nicht komplett zurückzuerlangen oder nicht vollends beherrschen zu können. Er wird sich seinem rasanten, inneren Tempo bewusst und der Liebe zu seiner Familie. Man merkt, dass Meyerhoff dazu übergegangen ist, mehr die anderen zu beobachten und seine Emotionen, Schwächen und Stärken mehr in Verbindung zu anderen stehen. Die Anekdoten seiner Kindheit werden weniger und im Sinne des schleichenden Generationenwechsels, erzählt er viele Geschichten über seine Kinder. „Hamster im hinteren Stromgebiet“ dokumentiert auch die sprachlichen und kulturellen Eigenschaften Wiens, eine Stadt, die ihren ganz eigenen Umgang mit dem Tod hat.

Auf das Wesentliche reduziert

Der Buchtitel „Hamster im hinteren Stromgebiet“ ist nicht aus der Luft gegriffen, das hintere Stromgebiet ist tatsächlich eine medizinische Fachbezeichung für ein Areal des menschlichen Gehirns. Woher die Hamster kommen, soll hier natürlich nicht vorweggenommen. Joachim Meyerhoff beschreibt die endlos lange Nächte im Krankenhaus, die skurrile Unterbringung von unterschiedlichen Menschen in teils demütigenden Situation und die Reduzierung auf das Wesentliche sehr treffend. Selbst wenn er keinen Witz beabsichtigt, muss man über seine akzentuierten Formulierungen schmunzeln und füllt sich Intellektuell sehr von seinen Ausdrucksmöglichkeiten inspiriert. Er ist einfach ein begnadeter Beobachter und Schriftsteller. Die nebenbei erzählten Geschichten dienen teilweise als Füllmaterial und das Buch endet zu früh, nach nur neun Tagen Aufenthalt im Wiener Krankenhaus. Den langen Weg zurück in die annähernde Normalität, für die meisten Patienten der wirklich anstrengendste und im Hinblick auf Selbsterkenntnis auch der aufschlussreichste, dürfen wir leider nicht mehr mitverfolgen.

Seiten: 320
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
ISBN-10: 3462000241
ISBN-13: 978-3462000245
VÖ: 10.09.2020

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Autorenseite von Joachim Meyerhoff beim KiWi-Verlag

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