Anne Stern – Fräulein Gold: Der Himmel über der Stadt (Band 3) – Review
Die Berliner Autorin Anne Stern hat ganz offensichtlich einen Plan, was ihre Saga über die Hebamme Hulda Gold angeht. Schon nach kurzer Zeit legt sie mit „Fräulein Gold: Der Himmel über der Stadt“ den dritten Band vor und noch dazu gibt eine Leseprobe am Ende des Buches Ausblick auf Band vier, der für November 2021 angekündigt wird. Genau wie bei einer Fernsehserie macht sich die tiefere Erzählweise und das sukzessive Ausarbeiten der einzelnen Haupt- und Nebencharaktere bezahlt. Wer die ersten beiden Romane kennt, ist nach wenigen Seiten wieder voll drin im Berlin der Zwanzigerjahre und im unsteten und konservativen Deutschland kurz nach – und wie wir leider wissen – auch kurz vor dem Krieg.
Ein Schritt vor und zwei Schritte zurück?
Die emanzipierte Hulda hat ihre Stelle als mobile Hebamme aufgegeben und sich in den sicheren Hafen einer Klinik begeben. Damit gerät sie nicht nur in Klinik-interne Machtkämpfe, sondern durch das Aufgeben ihrer Freiheit, geht auch ein wichtiger Teil verloren, über den sie sich mit ihrer Tätigkeit identifiziert hat. Denn auch wenn Hulda den gleichen Beruf ausübt, dann hat sie nun andere Zuständigkeiten und die Entbindung wird von Ärzten durchgeführt. Der magische Moment und das erhebende Gefühl, endlich neues Leben mit den eigenen Händen auf die Welt geholt zu haben, bleiben ihr ab jetzt verwehrt.
Und auch die von Armut betroffenen Personen, denen sie bisher tatkräftig zur Seite stand, kommen eher selten in die Klinik. Auch mit der Liebe zu ihrem Kommissar ist es weiterhin schwer, neue Menschen treten aber in ihr Leben und Hulda ändert ihren Anspruch an eine Beziehung. Grundsätzlich kann man zwar mit diesem Band einsteigen, aber sinnvoller ist es, die komplette Reihe zu lesen. Gerade um ihre persönliche Entwicklung nachvollziehen zu können.
Deutlich tiefsinniger, als die Optik vermuten lässt
Das Artwork von „Fräulein Gold: Der Himmel über der Stadt“ ist deutlich an die Serie „Babylon Berlin“ angelehnt und soll es potenziellen Leser*innen leichter im Hinblick auf die thematische Orientierung im Buchladen machen. Man vermutet also nicht unbedingt diese feine politische Sprengkraft und die gesellschaftliche Verantwortung, die die Autorin Anne Stern mit diesen Romanen vermittelt. Abgesehen von der schon immer stattfindenden feministischen und deutschpolitischen Komponente, setzt sie dieses Mal noch ein Schlaglicht auf Homophobie und generelle Identitätsfindung in dieser Zeit.
Es wird rauer in Berlin
Da man sich mittlerweile immer stärker mit den Protagonistinnen identifizieren kann, wirken die beschriebenen Diskriminierungen noch intensiver und mahnender. Zustände, die heute als selbstverständlich wahrgenommen werden, waren noch vor (verhältnismäßig) wenigen Jahren strafbar und zwangen Betroffene in die Anonymität, Doppelleben und Verschwiegenheit. Und fun fact: Sie sind nicht für immer zugesichert und müssen immer wieder verteidigt werden. Auch die rassistischen Äußerungen werden lauter und mehr und somit bedrohlicher. Es ist unausweichlich, dass die Jüdin Hulda Gold im Rahmen der Reihe mit der Nazi-Herrschaft in Deutschland in Verbindung kommen wird. Trotzdem bleibt es spannend, wie Anne Stern damit umgehen wird, denn bisher hat sie sehr feines Fingerspitzengefühl, besonders für die brisanten Situationen, bewiesen.
Hebamme Hulda ermittelt wieder
Hulda wäre nicht Hulda, wenn es nicht irgendetwas zum Aufklären und Ermitteln gäbe. In „Fräulein Gold: Der Himmel über der Stadt“ geschehen seltsame Dinge in der Klinik. Eine Frau stirbt bei einer Operation und es dauert nicht lange, bis Hulda Verdacht schöpft, dass hier generell etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Dieser Teil des Romans ist spannend, aber nicht minder spannend ist eben auch die Weiterentwicklung von bereits bekannten Zusammenhängen und Personen. Anne Stern hat wieder gut recherchiert und lässt ganz nebenbei wertvollen Geschichtsunterricht mit einfließen, denn die besprochenen Orte und Umstände sind nicht fiktiv.
Und auch popkulturell gibt es etwas zu entdecken. Wir erfahren zum Beispiel, dass der Song „Ausgerechnet Bananen“ die deutsche Interpretation des amerikanischen Foxtrottschlager „Yes! We Have No Bananas“ ist und die Grundlage für die Werbemelodie der bekannten 5 Minuten Terrine darstellte. Aus meiner Sicht ist das bisher der beste Band aus der Reihe, die Vorfreude auf Band vier ist groß.
Seiten: 480
Verlag: Rowohlt
ISBN-10: 3499004313
ISBN-13: 978-3499004315
VÖ: 21.04.2021
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