Esther Safran Foer – Ihr sollt wissen, dass wir noch da sind – Review
Gibt man den Namen der Autorin Esther Safran Foer, die das Buch „Ihr sollt wissen, dass wir noch da sind“ geschrieben hat, in eine Internetsuchmaschine ein, dann wird sie als Geschäftsfrau ausgewiesen. Die ehemalige Geschäftsführerin von Sixth & I, einem Zentrum für Kunst, Ideen und Religion, ist aber auch die Mutter von Jonathan Safran Foer, dessen Buch „Alles ist erleuchtet“ lange weltweit die Bestsellerlisten anführte.
Auch sie nimmt uns mit auf eine Reise in ihre Vergangenheit, öffnet ihre privaten Fotoalben und natürlich ist auch ihre Lebensgeschichte stark beeinflusst vom Nationalsozialismus. Gemeinsam mit ihrem Sohn Frank reist sie in die heutige Ukraine, um mehr über ihre toten Vater zu erfahren. In hohem Alter hat sie davon erfahren, dass dieser vor der Ehe mit ihrer Mutter bereits verheiratet war und seine erste Frau und eine Tochter den Nazis ebenfalls zum Opfer fielen.
Auf der Suche nach sich selbst
Esther Safran Foer reflektiert anfangs die Reaktionen auf das Buch ihres Sohnes und den daraus resultierenden Film mit Elijah Wood und Eugene Hutz von GOGOL BORDELLO. Viel Kritik erreicht die gesamte Familie, aber auch unzählige Türen gingen auf und etliche enge Verbindungen zu bis dahin Fremden entstanden. Sie berichtet auch von ihrer Kindheit und dem Schicksal ihrer Eltern, das immer von der Kriegszeit überschattet wurde und zu keiner Sekunde leicht war. Wer denkt, dass das notierte Ende der Herrschaft des Nationalsozialismus auch das Ende von Judenhass war, sollte sich mal die Augen reiben. Die Bande löste sich leider ebenso wenig in Luft auf, wie deren über Jahrzehnte verinnerlichten, menschenverachtenden Überzeugungen. Aus meiner Sicht sind diese Beschreibungen besonders aufschlussreich.
Jedes Detail zählt
Der Buchtitel „Ihr sollt wissen, dass wir noch da sind“ ist genauso gemeint. Selbstverständlich hat die Erinnerung für Esther Safran Foer noch eine ganz andere, viel tiefe Bedeutung. Der Schmerz, dass sie den Opfern nicht mitteilen kann, dass sie es geschafft haben, deren Schicksal am Leben halten und sie ehren, muss unerträglich. Die Momente, in denen sie die Namen und Verbindungen von unterschiedlichen Menschen aufschreibt und die Bedeutung, die jedes noch so kleine Detail für sie hat, machen einem beim Lesen ganz schwindelig. „Ihr sollt wissen, dass wir noch da sind“ ist ein intensives Buch, das man ganz sicher nicht mal nebenbei schmökert. Man kann sich natürlich nicht merken, wer mit wem und wann mal in Kontakt stand. Aber man folgt dem Drang so viele wie möglich zu finden und ist dankbar für jedes kleine Fitzelchen Information, das erkennen lässt, dass es damals auch kleine Lichtblicke gab.
Die Mutter von Esther Safran Foer ist schwer besorgt um ihre Familie und möchte eigentlich nicht, dass sich jemand auf Spurensuche und ihrer Meinung nach in Gefahr begibt. Auch Esther und ihr Sohn zweifeln oft und tatsächlich werden sie nicht überall sofort mit offenen Armen empfangen. Auch wenn man das Buch als kleinen Triumph über den Faschismus werten kann, dann sollte es doch in erster Linie eine Warnung sein. Wie diese Gräueltaten das Leben von vielen Familien über Generationen zerstört haben, kann man als nicht direkt betroffene Person nur erahnen. Die Ungewissheit, um Namenlose trauern, Lebenslinien, die sich verlieren, das alles ist kaum vorstellbar.
Schwer zu ertragen, aber unsagbar wichtig
Die Vorstellung, dass Menschen sich in Reih und Glied vor ihre selbst aufgehobenen Gräber stellen mussten, um dann von den Nazis nacheinander erschossen zu werden und in ebendiese zu fallen, ist unerträglich und kaum erfassbar. Genauso wie die absurden Kleinigkeiten, die manchen das Leben retteten, weil sie eben daheim die Mütze vergessen hatten oder einfach einmal glücklicherweise zum richtigen Moment gebückt haben. Dementsprechend kann man sehr gut nachfühlen, wie es sich für Esther Safran Foer anfühlen muss, an genau diesen Ort zu kommen und mit Gleichgesinnten zurückzublicken. Sie begibt sich auch auf die Suche nach sich selbst, spricht Gebete für die Toten, die sie genauso heilen und erlösen.
Seiten: 288
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
ISBN-10: 3462052225
ISBN-13: 978-3462052220
VÖ: 05.11.2020
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