Disarstar Deutscher Oktober

Disarstar – Deutscher Oktober – Review

Aufgenommen hat der Hamburger Rapper DISARSTAR sein neues Album “Deutscher Oktober” in dem kleinen Zeitfenster, in dem die Pandemie letztes Jahr plötzlich wie weggewischt zu sein schien und beinahe Normalzustand herrschte. Aber nicht im schicken Studio mit Dachterrasse, sondern mit Freunden am Waldesrand von Vierden. Mit seinem offensiven “Intro (Balenciaga)” geht es DISARSTAR offensichtlich gar nicht darum, den anderen Rapper*innen zu sagen, wie sich engagieren sollen. Es geht eher darum, sie zum Nachdenken zu bringen, ob sie nicht doch lieber die Künstler*innen sein möchten, die sie sich selbst gewünscht hätten, bevor der Erfolg kam. Denn Künstler*innen, die Schwule dissen und Frauen hassen, produzieren nichts, das die Gesellschaft irgendwie bereichert. Und die Kids im Viertel wollen nicht hören, wie geil die dann über ihre teuren Autos und Uhren flexen. Etwas mehr Relevanz würde Deutschrap echt gut zu Gesicht stehen und DISARSTAR zeigt, wie das klingen könnte.

DISARSTAR 2021, Foto von Tim Erdmann

“Die Welt ist sick”

“Nachbarschaft” ist ein bitterer Song über sogenannte Brennpunktviertel, deren Bewohner*innen man aber als Reaktion auf ihre strukturelle Benachteiligung nur blinde Wut zugesteht. Depressionen sind wohl den reichen Kids vorbehalten? Auch hier bricht DISARSTAR bewusst aus, spricht diejenigen, die handeln könnten, ganz konkret an. Handeln könnte auch bedeuten, einfach nicht immer und immer wieder das Märchen vom neoliberalen Erfolgs-Mantra zu wiederholen. Das ist schlichtweg Bullshit und wird meistens von denen propagiert, denen ihre eigentlichen Privilegien noch nicht mal mehr bewusst sind. Man muss den Songs mindestens 10 Mal hören, bevor man auch nur ansatzweise jede Doppeldeutigkeit und jede messerscharfe Pointe erkannt hat. Es geht darum, Anspruch zu erheben, idealistischen Anspruch auf die bestmögliche Gerechtigkeit und nicht das Gefasel von gleichen Chancen für alle.

In “24/7 (feat. ESO.ES)” konzentriert sich DISARSTAR darauf, dass die Gemeinschaft sich gegenseitig wärmt und sich als trauriger Nebeneffekt der Ausgrenzung zumindest wieder eine untereinander loyale Gruppe zusammenfindet. Die Themen auf dem Album sind allgemeingültig, die Hooks massiv eingängig, aber “Deutscher Oktober” ist in jeder Sekunde Underground und ganz sicher nicht radiotauglich.

“Wer hat den Finger am Trigger der Macht?”

DISARSTAR beschränkt sich auf die Themen, zu denen er wirklich etwas beitragen kann. Den Schmerz, den er in “Großstadtfieber (feat.Dazzit)” thematisiert, kann man nicht nachvollziehen, wenn man die Erfahrung selbst nicht gemacht hat. Wenn die Gräben zwischen Arm und Reich mithilfe von Gentrifizierung immer größer aufgerissen werden. Wenn Menschen, die sowieso schon durch das soziale Netz fallen, dann auch noch optisch versteckt werden, nur damit Reiche mit freiem Blick auf die Elbe residieren können. St. Pauli und Blankenese liegen direkt nebeneinander, gerade im letzten Jahr wird im Zeichen der Pandemie das Elend von vielen noch unübersehbarer.

Die Rapperin NURA ist gleich zweimal als Feature dabei und im Song “Verloren” beschreiben sie und DISARSTAR die Abwärtsspirale erschreckend deutlich. Was hat man zu verlieren, wenn schon so viel verloren ist und haben wirklich alle eine Chance? “Deutscher Oktober” von DISARSTAR ist eigentlich ein richtig trauriges Album, das sind meistens die besten. Man kann sagen, dass DISARSTAR sich seiner politischen Verantwortung bewusst ist. Klingt gut, aber irgendwie auch Bullshit, er ist sich in erster Linie seiner menschlichen Verantwortung bewusst.

Dauer: 36:30
Label: Warner Music
VÖ: 12.03.2021

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