Nico Semsrott – Brüssel sehen und sterben: Wie ich im Europaparlament meinen Glauben an (fast) alles verloren habe – Review
Der Satiriker, Politiker und Autor Nico Semsrott ärgert sich mit Sicherheit darüber, dass er „Brüssel sehen und sterben: Wie ich im Europaparlament meinen Glauben an (fast) alles verloren habe“ nicht am 1. April veröffentlichen konnte. Wäre eine schöne Seite für seinen Kalender des Scheiterns gewesen, aber vielleicht auch am Ende zu platt und Ostern wollte es eben anders. Gleich auf den ersten Seiten nimmt sich Semsrott aus der Verantwortung, er habe lediglich einige hundert Seiten Notizen abgegeben und das Buch dann von anderen schreiben lassen. Gelesen habe er das Ergebnis nicht.
Würde er bei seiner eigenen Einleitung den Maßstab anlegen, den er im Buch selbst an die Vorgänge im EU-Parlament anlegt, würde er das als feige und halb wahr werten. Wer genau waren denn die Menschen, die das Buch dann geschrieben haben und warum streicht er für das Werk die Knete ein, ist aber zu fein, um das Ergebnis vorher gegen zu checken? Entweder doof von ihm oder schon der erste Geniestreich.
Nico Semsrott hat tatsächlich daran geglaubt…
Nico Semsrott beendet in diesem Jahr seine fünfjährige Karriere im Europaparlament. Schon der Titel „Brüssel sehen und sterben: Wie ich im Europaparlament meinen Glauben an (fast) alles verloren habe“ lässt darauf schließen, dass er dort nicht seine beste Zeit gehabt hat. Den Glauben, an was auch immer, haben sicher auch einige Politiker und Politikerinnen mit langer Erfahrung verloren, als sie davon erfahren haben, dass Nico Semsrott tatsächlich dort ein Amt bekommen hat.
Viele seiner Beschreibungen hat sein ehemaliger Parteikollege Martin Sonnenborn in seinen beiden Büchern schon vorweggenommen. Semsrott berichtet ebenfalls von einem aufgeblasenen, verworrenen System, das sich selbst blockiert, korrupt ist und überwiegend nicht am tatsächlichen Vorankommen der Gesellschaft und dem Lösen von echten Problemen ist. Nimmt man den Buchtitel ernst, dann dachte Semsrott wohl, es sei doch nicht so schlimm: So weit, so naiv. Könnte man meinen.
Wenn du nur lange genug in den Abgrund starrst…
Vieles von dem, was Nico Semsrott in „Brüssel sehen und sterben: Wie ich im Europaparlament meinen Glauben an (fast) alles verloren habe“ infrage stellt, ist selbstverständlich berechtigt. Die Verschwendung von Geldern, die willkürliche Formulargestaltung und das Verschleppen von Antragseinreichungen, das korrupte Wählen von Personen in Ämter und auch der absurde Abstimmungsverlauf. Auf den ersten Seiten beschreibt er – beziehungsweise diejenigen, die seine Notizen zusammengefasst haben, wenn man ihm glauben darf – erstmal seinen eigenen, persönlichen Werdegang. Wie er erfolgreich die Pressefreiheit in seiner Schule verteidigte, eher zufällig auf die Bühnen gekommen ist und auch wie in immer wieder die Depressionen ereilen, die bei ihm erblich bedingt sind. Skripte von seinen alten Auftritten füllen mehrere Seiten und führen etwas zu weit vom Thema weg.
Schlechte Kombination für einen Besuch in Mordor
Man bezeichnet Semsrott als einen Idealisten. Also jemanden, der entgegen der Realität daran glaubt, dass es möglich ist, die Gesellschaft an ethischen Grundsätzen auszurichten. Depressionen und Idealismus, nicht gerade eine optimale Kombination, um im Europaparlament emotional unbeschadet zu überleben. Semsrott beschreibt sich selbst oft als Verweigerer, das Tragen seiner Kapuze ist ihm wichtig. Er fordert Regeln ein, will diese aber verstehen. Deshalb mäkelt er auch den Grenzen zur Einreichung von Beträgen – warum 150 € und nicht 149 € oder 151 € – und verliert sich dabei in so mancher Petitesse.
Dass er sich als ausgewiesener Demotivationstrainer an dem passenden Thema versucht, ist wenigstens konsequent. Und Nico Semsrott kann dem System EU offenbar doch noch einiges Gutes abgewinnen, berichtet auch von motivieren Politikern und Politikerinnen. Was er jetzt wirklich mit diesem Buch von uns will, ist nicht eindeutig klar. Überraschend ist wohl eher die Tatsache, dass gerade er dachte, dort etwas verändern zu können.
Seiten: 352
Verlag: Rowohlt
ISBN-10: 3499014106
ISBN-13: 978-3499014109
VÖ: 02.04.2024
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