Trümmer – Früher war gestern – Review
Manchmal hört man Alben und weiß sofort, dass sie für die Ewigkeit sind. „Früher war gestern“, das dritte Album von TRÜMMER, ist es so eines. Und irgendwie klingt es auch so, als ob es aus der Vergangenheit kommt, als ob „die Zeit aus ihren Fugen gerissen worden wäre“. Dieser feinfühlige und trotzdem sehr konkrete Protest ist selten geworden, die Indierocklandschaft scheint sich größtenteils gespalten zu haben in gefühlsdusseliges Blabla – den wahrscheinlich die Interpret*innen selbst nicht mal mehr fühlen – und total verkopfte Schachtelsatzlyrik mit hohem intellektuellem Anspruch, der auch fernab jeglicher anknüpfbarer Realität stattfindet.
Es geht zu viel zu früher, viel zu wenig um jetzt
TRÜMMER gelingt der Spagat zwischen schlau und verständlich bemerkenswert gut. Die Band gleicht sich intuitiv aus, hält sich die Hand und stützt sich gegenseitig. Wenn Sänger und Gitarrist Paul vom Regen singt, der die Schmerzen wegwischt und die Instrumente das so herrlich bildlich untermalen, kommt man gar nicht auf die Idee, es schmalzig zu finden. Oder wenn in „Zwischen Hamburg und Berlin“ alles Gesagte in einem instrumentalen Finale eskaliert. Gleiches gilt für die Patriotenklatsche „Draußen vor der Tür“, der Titel basiert auf einem Theaterstück von Wolfgang Borchert, in dem die Deutschen den Nazis die Stirn bieten. Die unterschwellig stattfindenden Wilder-Westen-Akzente geben dem Lied noch eine weitere Ebene, zeigen zurück auf eine Zeit, in der das Recht des Stärkeren galt und alles vermeintlich easy in zwei Seiten aufzuteilen war.
Aus den Steinen im Weg eine neue Straße bauen
Produziert wurde von Gitarrist Helge Hasselberg, eingespielt haben TRÜMMER live im März 2021 auf einem Gutshof in Schleswig-Holstein. Von jeher möchte man der Band der Stempel Hamburger Schule aufdrücken, aber mit „Früher war gestern“ emanzipieren sie sich mehr als deutlich, klingen tatsächlich eher nach THE STROKES oder FONTAINES D.C., MUMRUNNER oder SILVERBACKS. In kleinen Nuancen („Der Regen“), höre ich sogar DIRE STRAITS (eine Art vernebeltes „Sultans Of Swing“) in den Gitarren und der vermittelten Atmosphäre. Auch inhaltlich umschiffen sie jedes Phrasenschwein, was tatsächlich sehr erfrischend ist. Statt die Jugend zu verschwenden, bitte TRÜMMER darum sie zu verwenden und hantieren selbst mit in sich aufgehenden Sätzen wie „Ich wäre so gern ein Optimist“.
Trümmer, Neuanfang oder Ende?
Aktiv werden, sich als Teil der Welt zu verstehen und somit als den Schmetterling, der den Orkan auslösen kann, das ist eigentlich die Kernbotschaft des Albums. Von welchem früher TRÜMMER sprechen, lassen sie offen. Im Titeltrack machen sie aber deutlich, dass unser heute zwangsläufig zum früher wird und Tatendrang somit immer angesagt ist. Auch wenn das Lied eigentlich als Liebessong gedacht ist, wobei dieser Tipp auch für jede Beziehung hilfreich ist. Bemerkenswert ist auch der Song „Dort“, ein dichter und beruhigender Anker, der in jeder Faser Hoffnung transportiert, die sich überträgt, noch bevor man den Text intensiv gehört hat. Grundsätzlich kratzt das Album einfach emotional stark an der Oberfläche, bietet sich, ohne aufdringlich zu schreien und zu fuchteln, als eine Art Tröster an. Kann sein, das aber manchen genau deshalb der blinkende Hau-drauf-Kick fehlt.
Jedes Detail ist entscheidend
Abgesehen von der Erfahrung, die Teile von TRÜMMER in den letzten Jahren durch die Unterstützung großer Indie-Pop-Rock-Bands gesammelt haben (ILGEN-NUR, LEONIDEN…), profitiert die Band von einer unüberhörbaren, offensichtlich still vereinbarten Konzentration auf den Song an sich. Trotz seinem prägnanten Gesang schiebt sich Paul nie in den Vordergrund, die Band kumuliert immer zur bestmöglichen Version für den Song. Jedes Detail, jeder Hall, jeder Anschlagdruck, alles scheint entscheidend. Umso schöner, dass es eben live eingespielt wurde. „Früher war gestern“ ist ein Album, das man mit Sicherheit auch in fünf Jahren noch anhören kann. Aber hey TRÜMMER, nicht wieder so lange warten, bis zum nächsten Album.
Dauer:39:39
Label: PIAS / Rough Trade
VÖ: 17.09.2021
Tracklist „Früher war gestern“ von TRÜMMER
Wann wenn nicht
Aus Prinzip gegen das Prinzip
Weißt Du noch
Scherben
Dort
Der Regen
Draußen vor der Tür
Kintsugi
Zwischen Hamburg und Berlin
Tauben an der Ihme
Wie Spazieren geht
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